| # taz.de -- Taiji gegen Rassismus: Ein Affenkampf | |
| > Warum betonen Rassisten so oft, kein Rassist zu sein? Weil sie alles | |
| > abwehren, das von außen kommt. Unsere Autorin hat einen gymnastischen | |
| > Vorschlag. | |
| Bild: Ein Schub löst den nächsten ab, Bewegung und Gegenbewegung | |
| In letzter Zeit muss ich oft an eine Taiji-Übung denken, also die einzige | |
| Taiji-Übung, deren Namen und Bewegungsfolge ich kenne. Sie heißt „Affen | |
| abwehren“. | |
| Dafür braucht man einen stabilen Stand – Füße schulterbreit auseinander, | |
| Knie leicht gebeugt. Man schiebt die eine Hand nach vorne, als würde man | |
| etwas wegdrücken (Affen), während die andere zu einer kleinen Schale | |
| geformt auf Höhe der Hüfte schwebt. Und dann andersherum, ein Schub löst | |
| den nächsten ab, eine Schale die andere, Bewegung und Gegenbewegung, | |
| wegdrücken und ranziehen. | |
| Als Kind fand ich solche Übungen peinlich, heute kann ich ihren | |
| alltagspraktischen Nutzen erkennen. Neulich hätte ich zum Beispiel gern im | |
| Supermarkt [1][einen Maskenverweigerungsaffen] abgewehrt, der mir seinen | |
| Einkaufskorb in die Kniekehlen drückte. Leider habe ich mich nicht getraut, | |
| also blieb ich bei: „Es ist ja schon noch Maskenpflicht und Abstand wär | |
| auch super“, woraufhin er mir was von Maulkörben erzählte. | |
| Nun muss man wissen, gegen welche Affen es sich zu kämpfen lohnt. Bei | |
| Menschen, die einen Mundschutz für ein staatliches Zensurwerkzeug halten, | |
| ist aus meiner Sicht nicht viel zu holen. | |
| Etwas anders ist es mit diskursiven Affen. Ich verwende schon länger viel | |
| Energie darauf, die stets gleichen diskursiven Affen abzuwehren: „Rassismus | |
| gegen Weiße“, „Ambiguitätstoleranz“, [2][„Cancel Culture“, | |
| „Identitätspolitik“]. Die sind oft penetranter als der | |
| Maskenverweigerungstyp. | |
| ## Die Welt durch weiße Augen sehen | |
| Ich frage mich, ob ihre Absender:innen nicht auch das Gefühl haben, wir | |
| drehten uns im Kreis. Ob ihnen nicht auch schwindelig ist, ob sie nicht | |
| auch gern mal das Karussell anhalten würden, damit wir uns nebeneinander | |
| leerkotzen können und überlegen, ob wir nicht besser den Schießstand | |
| beaufsichtigen sollten. | |
| Aber nein: actio/reactio, abwehren/auffangen. Nur, was fangen wir auf | |
| voneinander? Ich habe wegen schlechter Angebotslage gelernt, mich in | |
| Figuren hineinzuversetzen, die auf den ersten Blick wenig mit mir gemeinsam | |
| haben. Ich habe mir früher fast versessen Mühe gegeben, das Gemeinsame | |
| hinter der Oberfläche freizukratzen, um die blonde Tanja König aus | |
| Großstadtrevier und Madita von Gut Birkenlund sein zu können. | |
| Ich habe geübt, die Welt durch weiße Augen zu sehen. Und jetzt habe ich | |
| fast bei jeder Abwehrbewegung eine zweite Hand, die etwas von der | |
| Gegenseite zu mir heranzieht. | |
| Wenn sie [3][Identitätspolitik] beklagen, machen sie sich dann Sorgen, dass | |
| sie etwas abgeben müssen? Wenn sie betonen, kein [4][Rassist zu sein], | |
| haben sie Angst, dass sie kein ausschließlich guter Mensch sind? Und wenn | |
| sie Ambiguitätstoleranz fordern, sind sie es vielleicht nur nicht gewohnt, | |
| dass ihre Sicht der Dinge in Frage gestellt wird? | |
| Füllt sich ihre Hand auch mit Fragezeichen, wenn ich sage: „Wir müssen | |
| Deutungshoheiten umverteilen“, oder haben sie längst alle Antworten? Falls | |
| ja, machen sie die Übung falsch und Bewegung ohne Gegenbewegung ist auf | |
| Dauer schlecht für die Haltung. | |
| 5 Aug 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Lin Hierse | |
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