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# taz.de -- Nach der Demo gegen Coronamaßnahmen: Welten lassen sich nicht wegs…
> Alles ist kompliziert und durcheinander – und ich bin müde. Doch in der
> Kompliziertheit dürfen wir nicht vergessen, was man jetzt tun muss.
Bild: Manchmal fällt sogar die Entscheidung zwischen Marmelade und Konfitüre …
Es ist zu kompliziert und zu viel und damit meine ich alles. Das ist schon
länger so, aber neulich fiel es mir im Supermarkt auf, als ich vor einem
Regal voller Marmelade und Konfitüre stand, um Marmelade oder Konfitüre
auszusuchen, obwohl ich eigentlich weder Marmelade noch Konfitüre besonders
mag. Aber über dem Regal voller zuckrigem Brotaufstrich hing ein
Lautsprecher und daraus tönte „No Scrubs“ von TLC. Gute Musik im Supermarkt
ist selten, also musste ich da sein, und wenn man schon mal da ist, kann
man auch was kaufen, was man nicht braucht, sagt der Kapitalismus. Ich
stand also vor einem Regal voller Möglichkeiten, etwa zwei Meter von süß
bis bitter, das ist nicht weit, und trotzdem liegen dazwischen Welten.
Alles ist zu kompliziert, spätestens seit der Globalisierung,
[1][allerspätestens seit Corona] und allerallerspätestens, seit „eine bunte
Mischung aus Menschen“ am vergangenen Wochenende [2][mit Nazis
demonstrierten] und [3][Nazis dann vor dem Sitz des Bundestags Fahnen
schwenkten]. Schwarz-weiß-rote Fahnen, hin und her, dazwischen auch mal
schwarz-rot-gelbe, her und hin, es ist ja nicht weit von Gelb nach Weiß,
und trotzdem liegen dazwischen Welten?
Alles ist kompliziert und durcheinander. Mich macht das müde und ich bin
nicht allein damit. Wir verstehen die Welt nicht mehr,
Komplexitätsmüdigkeit ist der neue Zeitgeist. Und der ist gefährlich. In
schwachen Momenten wünschte ich, jemand würde mir sagen, welche Marmelade
ich kaufen soll. In schwachen Momenten hoffen alle, „die Mitte“ wird’s
schon richten. Wann wurde die Mitte noch mal entnazifiziert?
## Zwischen Reichsflaggen und Reichkriegsflaggen
Ich mache das Internet auf und soll lernen, zu unterscheiden: zwischen
Verfassungsfeindlichkeit und Verfassungsskepsis, einer Reichsflagge und
einer Reichskriegsflagge. Ich mache das Internet zu. Marmelade, Konfitüre.
Ist es wirklich so kompliziert? Sind das die wichtigen Dinge, die wir
lernen müssen?
Früher haben wir Menschen bewundert, die scheinbar auf alles Antworten
hatten. Heute machen solche Leute misstrauisch. Ich würde mich gern
brüllend auf den Boden werfen, wie ein Kind, dem alles zu viel ist. Aber
ich seufze den Gedanken weg, weil Erwachsene das so machen. Man lernt
sprechen und beginnt fast jeden Satz mit: „Warum“, irgendwann sagt man fast
nur noch: „Weil“. Weil es halt so ist, wie es ist, kompliziert eben. Es
gibt ein Überangebot an Marmelade, die ich nicht haben will, und ein
Überangebot an Analysen, die von den falschen Fragen ausgehen. Wie kommen
wir hier raus? Wer ständig sagt, dass alles kompliziert ist, übersieht, was
dringend einfach sein muss.
Die Antwort auf Nazis vor dem Bundestag ist einfach und Erwachsensein darf
nicht näher an Gewöhnung liegen als an Veränderung. 1933 und 2020 trennen
87 Jahre, das ist nicht viel und trotzdem liegen dazwischen Welten – aber
diese Welten liegen da nicht, weil Menschen die Dinge weggeseufzt haben.
Und die Welten sind längst nicht groß genug.
1 Sep 2020
## LINKS
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[3] /Berichterstattung-Anti-Corona-Demo/!5706576
## AUTOREN
Lin Hierse
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