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# taz.de -- Nachdenken über Raum und Zeit: Das Gefühl Fernheimweh
> Manchmal kann die Berliner Sonnenallee sich anfühlen wie 8.400 Kilometer
> südöstlich. Warum? Die Serie „Dark“ liefert die Antwort.
Bild: In ein matschiges Stück Wassermelone treten und sich daran erinnern, das…
Jedes Jahr im Sommer packt mich das Fernheimweh. Ich gehe dann die
Sonnenallee hinunter, an offenen Garküchen vorbei und durch Dampfschwaden
hindurch, es riecht nach frisch gebackenem Brot, nach Grillfleisch, nach
Frittieröl.
Neben mir laufen nackte Füße in Plastikschlappen; wenn ich die Augen
schließe, ist [1][die Sonnenallee kurze 8.400 Kilometer weiter südöstlich],
und wenn ich in ein matschiges Stück Wassermelone trete, erinnere ich mich,
dass mein Herz noch da ist. Weil ich dann noch mehr eingehen will in meinem
Fernheimweh, gucke ich zu Hause Youtube-Videos, in denen Ü-50-Frauen in
Daunenjacken zu klimpernder Fahrstuhlmusik shanghainesische Gerichte ihrer
Kindheit zubereiten.
Ich habe neulich versucht, alle Dinge in meiner Wohnung zu zählen, die mit
China zu tun haben. Ein Großteil sind Bücher, Essstäbchen, Porzellan,
Schmuck und Kleidung. Manches ist sofort ersichtlich (Objekt #38: ein
Beistellschränkchen aus dem chinesischen Antiquitätenladen, der aus dem
Kiez weggentrifiziert wurde), manches gar nicht, wenn man die Dinge nicht
kennt (Objekt #2: eine alte Schieferziegel vom Geburtshaus meiner
Großmutter).
Bei 108 habe ich aufgehört zu zählen, weil mir die Zahl immens belastend
vorkam. [2][Ich musste an Marie Kondo denken und Dinge, die joy sparken],
und ich musste mich fragen, wie obsessiv Menschen (ich) damit sind,
Gegenstände zu sammeln, auszustellen und wegzusortieren.
## Dinge, die Gefühle sparken
Vor ein paar Wochen habe ich [3][die neue Staffel „Dark“] geguckt, darin
geht es auch ums Zeitreisen. Irgendwann erkennen die Protagonist:innen,
dass die Frage nicht lautet, wo jemand oder etwas ist, sondern wann. Und
weil es parallele Universen zu geben scheint, sind Momente und Dinge und
Menschen zum Beispiel sowohl 1921 als auch 2019. Diesen Gedanken finde ich
sehr logisch. Schließlich transportieren Dinge Geschichte und Geschichten,
jedenfalls solche, die Gefühle sparken. In der Netflix-Serie heißt das:
Alles ist miteinander verbunden.
Was, wenn 108 Dinge nicht nur jetzt sind, sondern auch früher? Wenn von
jedem Essstäbchen aus dünne Fäden wie Spinnweben von hier bis an den Ort
und die Zeit ihrer Herkunft verlaufen? Kein Wunder, dass das belastend ist.
In einem nicht genau zu bestimmenden Jahr in den 1920ern wurde Abu unter
Schieferziegeln geboren, fast 100 Jahre später liegt eine dieser Ziegeln
auf einem Berliner Regalbrett.
Fernheimweh sehnt sich nicht nur nach einem Ort, sondern auch nach einer
Zeit, sonst wäre es niemals so romantisch. Auf der Sonnenallee tritt eine
sehnsüchtige Dreißigjährige im Jahr 2020 auf ein matschiges Stück
Wassermelone, und in einem ostchinesischen Dorf schaut eine faszinierte
Vierjährige im Jahr 1994 dabei zu, wie kräftige Männerhände kühle
Wassermelonen aus einem Brunnen hieven. Und ganz kurz ist beides zwar 26
Jahre voneinander entfernt, aber eben trotzdem gleichzeitig.
22 Jul 2020
## LINKS
[1] /Mythos-Sonnenallee/!5579719/
[2] /Julia-Luedemann-ueber-Aufraeum-Euphorie/!5690216
[3] /Finale-der-Netflix-Serie-Dark/!5693084/
## AUTOREN
Lin Hierse
## TAGS
Kolumne Chinatown
Berlin-Neukölln
Heimat
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Kolumne Chinatown
Netflix
Schwerpunkt Rassismus
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