# taz.de -- Julia Lüdemann über Aufräum-Euphorie: „Viel Besitz ist anstren… | |
> In Corona-Zeiten ist Aufräumen zum Volkssport geworden. Ein Gespräch mit | |
> der Aufräumassistentin Julia Lüdemann über die Freude des Loslassens. | |
Bild: „Es sind die tollsten Geschichten, die ich geschenkt bekomme“: Aufrä… | |
taz: Frau Lüdemann, in Corona-Zeiten ist das häusliche Entrümpeln zum | |
Volkssport geworden. Hilft Aufräumen gegen die Angst? | |
Julia Lüdemann: Ordnung schaffen hilft gegen die Angst. Man hat ja Angst | |
vor dem Chaos und das Leben ist Chaos, weil es anders kommt, als man denkt, | |
da hilft Aufräumen und Struktur schaffen total. Man kann sich daran längs | |
hangeln. Es wird zwar auch immer wieder über den Haufen geworfen, aber es | |
hilft. | |
Stimmt die Plattitüde – oder Weisheit – dass äußere Ordnung innere Ordnu… | |
begünstigt? | |
Ja – aber ich würde dazu sagen: Jeder hat seine eigene Ordnung. Man darf | |
nie einem anderen seine eigene Ordnung aufdrängen. Wenn jemand gerne viele | |
Dinge um sich hat, dann soll es auch so sein. | |
Warum ist Ordnung und Entrümpeln auch schon vor Corona so ein großes Thema | |
geworden? | |
Weil wir immer mehr Dinge besitzen, weil Konsumieren dazugehört und das | |
eine wahnsinnige Geschwindigkeit aufgenommen hat. Es ist ein Teil meiner | |
Arbeit, dass ich den Menschen ohne Zeigefinger aufzeigen möchte, dass wir | |
gar nicht so viel brauchen, um glücklich zu sein. Und dass man immer noch | |
etwas machen kann mit den Dingen – man muss nicht unbedingt neue Schränke | |
und Kisten kaufen, um dann Ordnung zu haben. Dabei ist das Loslassen viel | |
wichtiger. | |
Eigentlich müssten die Leute schon auf das Sich-Trennen eingestellt sein, | |
wenn Sie sie anheuern fürs Klarschiffmachen. | |
Das ist das Schöne: Die wollen ja richtig. Wenn man sich schon überwunden | |
hat, mich zu kontaktieren und in sein Heiligstes, in sein Zuhause zu | |
lassen, dann hat man ja schon einen richtigen Willen oder einen | |
Leidensdruck oder vielleicht auch Freude daran. Sie sind oft aber auch | |
überrascht, wie schwer es ihnen manchmal fällt oder wie leicht. | |
Ist das auch mit Scham besetzt? | |
Sehr. Das versuche ich den Menschen immer zu nehmen. Einer meiner Kunden | |
meinte mal: Jetzt kann ich sterben und meine Mama kann kommen und ist nicht | |
mehr völlig fertig, wenn sie meinen Wohnraum betritt. | |
Ist es ein Spagat, die Kunden einerseits sein zu lassen, wie sie sind, und | |
sie andererseits zum Loslassen zu ermuntern? | |
Das ist eine Gratwanderung. Ich versuche mich da wirklich rauszunehmen und | |
herauszufinden, was für eine Ordnung derjenige hat. Meist stelle ich | |
Fragen: „Also wirklich, du musst das aufbewahren, weil deine Mama dir das | |
geschenkt hat, du es aber total hässlich findest?“ Und dann können sie es | |
eigentlich immer selber beantworten. Oder ich überlasse es ganz den Leuten, | |
aber dann sehen sie, es tut sich ja gar nichts, wenn noch so viel da ist. | |
Ist das Aussortieren so schwierig, weil man sich von Lebensabschnitten | |
trennt, von den Babysachen der Kinder, die inzwischen weit weg wohnen? | |
Ja – und das ist das, was mich am meisten beschäftigt und deswegen habe ich | |
die Ausbildung zur Trauerbegleiterin angefangen. Es geht häufig ums | |
Loslassen und das ist schmerzbesetzt. Aber danach geht es einem häufig gut. | |
Es geht öfter um Nachlässe, wenn jemand verstorben ist, ist das sozusagen | |
die Königsaufgabe. Aber ums Loslassen geht es auch, wenn die Kinder aus dem | |
Haus gehen oder wenn ein Lebensabschnitt vorbei ist. Das fängt schon bei | |
Büchern an: Ach, dieses Sportbuch, das wollte ich ja eigentlich machen, und | |
sich dann einzugestehen, diese Traumfigur kriege ich nicht mehr und das | |
Buch kann einfach auch gehen. | |
So wird es zum großen Ding, ein Taschenbuch wegzugeben. | |
Deswegen ist es schwierig, auch für Menschen, die glauben, sie könnten gut | |
aufräumen, die sagen: „Ja, das kommt alles weg.“ Das habe ich ganz oft bei | |
Männern erlebt, auch wenn es um Nachlässe geht. Die wollen sich gar nicht | |
damit auseinandersetzen und den ganzen Kram noch mal angucken. Die nehmen | |
lieber die ganze Kiste Fotos und schmeißen sie weg. Das kann man auch | |
machen, aber dann ist es halt weg. | |
Kommen Sie dann in die andere Rolle und fragen, ob man nicht etwas aufheben | |
will? | |
Ja, das habe ich auch schon. Es gibt die großen Wegschmeißer, bei denen ich | |
denke: Das will er wegwerfen, aber ich glaube, dass er daran hängt, | |
vielleicht ärgert er sich hinterher. Ich packe häufig mit Menschen | |
Erinnerungskisten, das ist etwas ganz Schönes. Die kann man auch zumachen | |
und wegstellen. Ich hatte mal eine Frau, die sich vom Partner getrennt | |
hatte und voller Wut alles Mögliche weggeschmissen hatte, das ist auch | |
total gut, das nenne ich immer das Voodoo-Wegschmeißen. Aber so ein paar | |
Sachen – es war ja auch eine schöne Zeit – haben wir in eine schöne Kiste | |
gepackt, zugemacht und dann weggestellt als Teil des Lebens. | |
Die Aufräumhilfe ist ja erst einmal etwas sehr Pragmatisches. Wie kommt man | |
dann auf die Ebene der Trauer und des Abschiednehmens? | |
Das kommt auf den Menschen an. Das Pragmatische ist auch das Schöne daran, | |
das praktische Tun hilft auch oft. Ich bin keine ausgebildete Psychologin, | |
ich mache etwas Praktisches mit den Leuten. Wir räumen auf, wir gucken uns | |
die Dinge an, wir überlegen, wo sie hin können. Ich nehme immer eine | |
Kofferraumladung mit und bringe das zum Spenden oder zum Recyclinghof. | |
Manchmal fangen die Menschen an zu reden, manchmal auch nicht und dann | |
lasse ich sie auch. | |
Wie sind Sie dazu gekommen, aus dem Aufräumen einen Beruf zu machen? | |
Ich habe darüber in einer Zeitschrift gelesen, über eine Frau in England, | |
eine gelernte Soziologin, dort hat man das schöne Wort „decluttering“ | |
dafür. Da war ich gerade in einer Umbruchsituation und dachte: Ja. Dann | |
habe ich Bücher darüber gelesen, wie andere das machen, habe das selbst | |
ausprobiert bei mir, also zum Beispiel ein Archivsystem mit Hängemappen und | |
dann kann ich das anderen viel besser vorschlagen. | |
Denken Sie manchmal auch „Meine Güte, diese Überflussgesellschaft“, wenn | |
Sie den ganzen Kram sehen? | |
Manchmal denke ich, puh, das sind ja viele Sachen, aber ich hüte mich, das | |
zu bewerten. Manchmal ist es auch ganz lustig: Bei einer Frau haben wir | |
Papiersachen aussortiert und die hatte ganz viel in Klarsichthüllen. Die | |
haben wir alle aufbewahrt, weil man sie ja wieder benutzen kann, und am | |
Schluss hatten wir einen riesigen Berg von Klarsichthüllen und sie hatte | |
auch noch neue Klarsichthüllen. Ich mache oft Listen, was noch zu tun ist, | |
da schreibe ich dann „Nie wieder Klarsichthüllen kaufen“, wenn ich weiß, | |
beide sehen das mit Humor. Manchmal merken die Leute dann auch, das ist zu | |
viel und das ist auch gefährlich, weil sie sich wieder schämen. | |
Obwohl Sie alles, was noch benutzbar ist, einer neuen Verwendung zuführen? | |
In dem Moment, wo ich weiß, wohin man es spenden kann oder die Menschen es | |
selber wissen, das ist ja noch viel schöner, ist es viel einfacher, es | |
auszusortieren und sich davon zu verabschieden. | |
Braucht es eine gewisse Kraft, um sich der Traurigkeit des Abschieds zu | |
stellen? | |
Ja, unbedingt. Manchmal muss man schon nach drei Stunden aufhören, weil es | |
so emotional ist. Das sollte man nicht unterschätzen. Und es ist ganz viel | |
wert, wenn jemand das macht. Wenn man zum Beispiel am Ende sein Leben so | |
ordnet, dass nicht die, die einmal deine Erben sind, das alles ordnen | |
müssen. Du kannst es ja selbst am besten und weißt vielleicht, dass die | |
Liebesbriefe nicht in die Hände der Kinder fallen sollen. Das zeugt von | |
Größe, wenn du das kannst. Es kann nicht jeder und es ist auch nicht | |
schlimm, wenn man es nicht macht. Aber es ist toll, wenn man es macht. | |
Überträgt sich die Traurigkeit auch auf Sie? | |
Ich versuche, das nicht an mich ranzulassen. Natürlich nehme ich gewisse | |
Sachen mit, aber es ist ein Trugschluss zu denken, dass das immer traurig | |
ist. Es sind ja auch die tollsten Geschichten, die ich geschenkt bekomme, | |
die mir die Menschen erzählen zu den Dingen. Es sind so schöne Leben, die | |
überall gelebt werden, das ist eine tolle, unmonetäre Bezahlung, die ich | |
bekomme. | |
Zum Beispiel? | |
Ich habe ein Lieblingsding von einer meiner Lieblingskundinnen, die ganz | |
viel in ihrem Leben gereist ist. Das ist eine Tasche, die ist voller | |
Anhänger von Hotels und Fluggesellschaften, es sind sehr viele und sie sind | |
ganz bunt, sie stehen symbolisch für ihr Leben. | |
Gibt es einen typischen Kunden, eine typische Kundin? | |
Nein, das kann man nicht sagen, das ist auch das Schöne. Es gibt Alte, | |
Junge, Frauen, Männer, Wohlhabende, Menschen mit nicht so viel Geld, | |
Künstler, Geschäftsfrauen. Ich habe auch schon mit Kindern aufgeräumt. | |
Natürlich können sich manche mich besser leisten, das finde ich manchmal | |
schade. Ich würde auch gerne mehr mit Leuten arbeiten, die mich erst gar | |
nicht fragen, weil sie fürchten, das können sie sich nicht leisten. | |
Die US-Amerikanerin Marie Kondo ist eine Ikone des Aufräumens geworden und | |
zugleich für einige Stein des Anstoßes. Können Sie etwas mit Ihrem Prinzip: | |
„Macht dieser Gegenstand dich glücklich – sonst kann er weg“ anfangen? | |
Ich kann etwas damit anfangen – ich weiß aber auch, was die Leute daran | |
schwierig finden. Ich finde, dass sie den Leuten zu wenig ihre eigene | |
Ordnung lässt. Ich habe überlegt, ob ich ihr Zertifikat mache, aber es war | |
zu teuer für mich und als ich gesehen habe, dass sie Dinge auf ihrer | |
Webseite verkauft, dachte ich: Nein, das bin ich nicht. | |
Ist das Loslassen per se hilfreich? | |
Manchmal erleichtert leichtes Gepäck das Weiterreisen oder das Leben. Wenn | |
du viele Dinge hast, musst du dich auch um viele Dinge kümmern. Wenn du | |
wohlhabend bist, musst du dich um ein Riesenhaus kümmern, das kann | |
aufwendiger sein, als wenn du eine kleine Wohnung hast. Dann hast du auch | |
Zeit für andere Dinge. Das kann man sich auch öfter mal vor Augen halten. | |
So viel Besitz ist auch anstrengend. | |
17 Jun 2020 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
Miguel Ferraz | |
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