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# taz.de -- Lob der Unordnung: Chaos im Herz
> In WGs setzen immer die Ordentlichen den Maßstab. Warum eigentlich? Ein
> Plädoyer für mehr Laisser-faire.
Bild: Ein bisschen Unordnung schadet nie
Auf den ersten Blick mag es vielleicht nicht auffallen, aber in meinem
Herzen herrscht das Chaos. Solange sich mein Besuch rechtzeitig ankündigt
und sämtliche Schubladen und Schränke geschlossen bleiben, kann ich meine
wahre Identität zwar erfolgreich verstecken. Doch nach zwei Jahren WG-Leben
bröckelt langsam meine Fassade.
Vermehrt „vergesse“ ich dreckige Teller in der Spüle oder lege diverse
Gegenstände „vorläufig“ auf der Bank im Flur ab. Für meine ordnungsliebe…
Mitbewohnerin ist das der größte Horror. Regelmäßig räumt sie Dinge von mir
weg und zerstört damit meine über Monate erarbeitete
Zettelhaufenchronologie.
Sich darüber zu beschweren, dass jemand für einen aufgeräumt hat, kommt
allerdings nicht so gut an. Denn im Aufräumstreit der WGs gewinnt stets die
Ordnung. Mit Putzplänen, Belohnungssystemen, manchmal sogar Strafen sollen
selbst die größten Chaoten eingefangen werden.
Wer ordentlich ist, hat sein Leben unter Kontrolle, heißt es, sei fleißig
und erfolgreich. [1][Unordnung symbolisiert hingegen das Gegenteil].
Googelt man „Gründe für Unordentlichkeit“, erscheinen Ergebnisse wie
Stress, Überforderung und innere Unruhe. Auf mich trifft das nicht zu. Mich
stresst höchstens, wenn mir dauernd jemand signalisiert, dass ich aufräumen
soll.
Aber was definiert überhaupt Ordnung? Eine [2][Studie aus dem Jahr 2021]
von Forscherinnen der University of Sussex und der University of East
London zeigt, dass Zufriedenheit nicht davon bestimmt ist, wie ordentlich
die Umgebung eines Menschen tatsächlich ist, sondern wie ordentlich sie
wahrgenommen wird. Deshalb denkt meine Mitbewohnerin, dass ich die Flurbank
als Zwischenlager für Papiermüll benutze, während ich es dekorativ finde,
Bücher und Zeitungen an verschiedenen Orten der Wohnung zu platzieren.
Außerdem ist unser Ordnungsempfinden stark durch unsere Herkunft geprägt.
Kurz gesagt: Wer aus einem „ordentlichen“ Haushalt kommt, führt auch selbst
einen „ordentlichen“ Haushalt. An der eigenen Unordentlichkeit lässt sich
im Erwachsenenalter nur noch bedingt etwas ändern.
Die gute Nachricht ist: Das muss man auch gar nicht!
Unordentliche Personen brauchen zwar oft mehr Freiheit und arbeiten weniger
linear als ordentliche Personen, das macht sie aber nicht zu schlechteren
Menschen. Auch im leicht klischeehaften Spruch „Nur ein Genie beherrscht
das Chaos“ steckt schließlich ein wahrer Kern. Dass Unordnung Kreativität
anregt, ist ebenfalls [3][wissenschaftlich bewiesen]. Zudem kommen
Menschen, die mit Unordnung gut umgehen können, auch besser mit
Ambiguitäten zurecht.
Dass die Bedürfnisse ordentlicher Menschen trotzdem andauernd über denen
unordentlicher Menschen stehen, nervt. Spätestens seit während der
Coronapandemie die Aufräumkönigin [4][Marie Kondo] alles eliminiert hat,
was keine joy sparkt, ist es die Norm, dass zu jeder Zeit alles einen Platz
hat und nichts herumliegen soll – für viele Menschen ist das kaum
erreichbar.
Dabei habe durchaus auch ich das Bedürfnis, aufzuräumen, nur eben seltener
als meine Mitbewohnerin. Wenn es dann mal so weit ist, mache ich dafür
alles auf einmal. Ein Großputz ist für mich viel befriedigender, als
ständig lästige Kleinigkeiten von A nach B zu räumen. Ich sehe auch wenig
Sinn darin, Dinge, die ich ohnehin ständig benutze, jedes Mal wieder in
eine Schublade zu räumen.
Meine Oma sagt immer: „In einem geordneten Haushalt geht nichts verloren.“
Meine Mitbewohnerin würde ihr vermutlich zustimmen. Wenn ich ausnahmsweise
doch mal etwas ordnungsgemäß wegräume, habe ich ein paar Tage später
vergessen, wo ich es hingelegt habe.
29 Aug 2025
## LINKS
[1] /Debatte-Oekologisch-Aufraeumen/!5587040
[2] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0272494421000062?via…
[3] https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/0956797613480186
[4] /Debatte-Oekologisch-Aufraeumen/!5587040
## AUTOREN
Regina Roßbach
## TAGS
Ordnung
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Aufräumen
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