# taz.de -- Klasse und Minimalismus: Ich habe noch einen Koffer in Wien | |
> Wo ich herkomme, schmeißt man Sachen nicht einfach weg. Wo ich heute | |
> lebe, gilt: Weniger ist mehr. Deshalb stellt mich eine Nachricht vor | |
> Probleme. | |
Bild: Der verstaubte Koffer erinnert mich daran, dass ich gegangen bin | |
Ein alter Freund hat mir eine Nachricht aus meiner früheren Heimat Wien | |
geschickt. Angehängt hat er ein kurzes Video aus seinem Keller, in dem er | |
einen verstaubten Koffer öffnet und darin herumkramt. Ich brauche kurz, um | |
zu verstehen, warum er mir ein komisches Video aus seinem Keller schickt | |
statt eines vom Donaukanal, wo wir früher heiße Sommerabende verbracht | |
haben, oder aus dem schönen Augarten. | |
Dann hält er ein Poster in die Kamera, das ich kenne, befreit | |
Playstation-Spiele aus einem Haufen mit Stadtplänen und Reiseführern, eine | |
alte Digicam ist da noch und ein Fotoalbum. Das sollte für einen Eindruck | |
reichen, sagt mein Freund amüsiert und fügt freundlich, aber bestimmt | |
hinzu, dass ich ihn doch wissen lassen solle, was ich „mit dem guten Stück“ | |
vorhabe, das ich nach dem Studium bei ihm gelagert und offenbar völlig | |
vergessen hatte. | |
Was, wenn er den Koffer einfach wegwirft!?, ist mein erster, panischer | |
Gedanke. | |
Wäre auch nicht so schlimm, ist doch fast nur Müll, ist der beruhigende | |
zweite. | |
Nicht schlimm? Fast nur Müll? Dein Ernst!?, der empörte dritte. | |
[1][Da, wo ich herkomme], schmeißt man Sachen nämlich nicht einfach weg. | |
Über das Wegschmeißen kann man nachdenken, aber nur dann, wenn zukünftige | |
Verwendungsmöglichkeiten sorgfältig geprüft und ausgeschlossen wurden. | |
Vielleicht werden alte Digitalkameras ja irgendwann mal so cool wie alte | |
Analogkameras heute? Vielleicht wollen Menschen irgendwann alte | |
Playstation-Spiele zocken? | |
## Wie das Menschen eben tun, wo ich heute lebe | |
Wer weiß das schon? Und wer weiß, was die Sachen dann wert sind? Heute lebe | |
ich aber [2][nicht mehr da, wo ich herkomme]. Der verstaubte Koffer | |
erinnert mich daran, dass ich gegangen bin. Wo ich heute lebe, glauben die | |
Menschen nicht mehr an Gott oder materiellen Wohlstand durch harte Arbeit, | |
sondern an: [3][Weniger ist mehr.] Sie schauen „Aufräumen mit Marie Kondo“ | |
und empfinden große Befriedigung, wenn Sachen weggeschmissen werden. | |
[4][Sie zitieren] „Haben oder Sein“ von Erich Fromm und beschenken einander | |
aus konsumkritischen Gründen nicht mehr. Sie wohnen in leeren Wohnzimmern | |
und finden blanke, sterile Wände schön. | |
Weil mich der verstaubte Koffer vor Schwierigkeiten stellt, gehe ich | |
spazieren, um nachzudenken. Ich höre dabei einen klugen, tiefsinnigen, über | |
das Leben reflektierenden Podcast, wie das Menschen eben tun, wo ich heute | |
lebe. „Eigentlich ist das Zuviel von Sachen für niemanden gut“, [5][höre | |
ich den Regisseur Wim Wenders] mit seiner angenehm sanften Stimme sagen. Es | |
geht um seinen Film „Perfect Days“ über einen minimalistisch lebenden, die | |
öffentlichen Toiletten von Tokio reinigenden und sehr zufriedenen Mann. | |
Ich kehre mit großer Entschlossenheit in meine Wohnung zurück, in der die | |
Wände blank und die Räume luftig sind und das Alte zurückgedrängt ist auf | |
eine Ecke auf dem Schreibtisch, in der sich Zeitschriften und Bücher | |
sammeln, die ich ganz bald entsorgen möchte. Ich weiß jetzt, was zu tun | |
ist. | |
Ich fange an, eine Antwort in mein Smartphone zu tippen. Dann geht alles | |
ganz schnell. Als die Nachricht weggeschickt ist, stelle ich erschrocken | |
fest, dass ich meinen Freund nicht dankend gebeten habe, den ganzen Kram | |
bis auf das Fotoalbum zu entsorgen. Stattdessen habe ich ihm versichert, | |
dass ich den Koffer ganz bald abholen werde. Im März oder April. | |
Allerspätestens im Sommer. | |
19 Feb 2024 | |
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[5] https://www.youtube.com/watch?v=_xPv5pY_UN4 | |
## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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