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# taz.de -- Bildung und Klasse: Qual der Lücke
> Selbstbewusst zu Bildungslücken zu stehen mag klassismuskritisch gesehen
> progressiv sein. Das Problem dabei ist, dass Wissen unglaublich toll ist.
Bild: Der Barbier von Sevilla gehört bei den Universalinformierten zum Bildung…
Zahnlücken sind cool und sexy. Dafür stehen die französische Schauspielerin
Brigitte Bardot und der [1][Werder-Stürmer] Niclas Füllkrug. Auch
Bildungslücken können das sein. Zumindest gehört das Wort Klassismus
mittlerweile fest zum Repertoire des aufgeklärten linksakademischen Milieus
– und seine Mitglieder besinnen sich immer mehr auf das berühmte „Ich wei�…
dass ich nichts weiß“ des großen Philosophen Sokrates. Zu Recht.
Denn [2][wir Arbeiterkinder] haben eben nicht schon mit 12 Jahren Goethe,
Hesse und Kafka gelesen. Mit klassischer Musik und mit bildender Kunst
braucht ihr uns gar nicht zu kommen. Dafür haben unsere Leute HipHop groß
gemacht. Wir kennen den literarischen Kanon nicht so gut. Dafür können wir
oft mehr als eine Sprache. Wir haben beim Abendbrot nicht mit unseren
Eltern über das Weltgeschehen diskutiert. Aber wir haben gelernt, uns auch
zu behaupten, wenn es hart auf hart kommt. Unser Wissen im klassischen
Sinne ist im Vergleich zu Gleichaltrigen aus anderen Elternhäusern
beschränkt, aber mit den Worten des großen Rappers [3][Kool Savas] gefragt:
Wo ist jetzt der Diss?
Es wäre schön, wenn sich das Problem mit diesem alten Trick der Aneignung
und positiven Umdeutung einer negativen Zuschreibung, hier Unwissenheit,
erledigt hätte. Aber so einfach ist es nicht. Weil es natürlich toll ist,
Dinge zu wissen.
Denn Wissen ist sinnstiftend, erfüllend, ermächtigend. Wer Wissen hat, kann
es mit anderen teilen. Wer was weiß, hat etwas zu erzählen. Wer nichts
Neues lernt, erzählt immer das Gleiche. Deswegen will ich heute alles
wissen und kann in meiner kompensatorischen Wissbegierde manchmal
Wissenswertes von Wissensunwertem nicht unterscheiden. Aber ich möchte halt
gut vorbereitet sein. Schließlich lauert überall potenzielle Konfrontation
mit der eigenen Bildungslücke. Deshalb gilt für Wissen dasselbe wie für
Essen: [4][lieber zu viel als zu wenig!]
## Alles lesen, alles merken
Zum Beispiel mache ich gerade einen Sprachkurs an der Volkshochschule. Als
bei einer der Übungen der „Barbier von Sevilla“ auftaucht, irritiert es
mich, dass wir ausgerechnet in einem Italienischkurs über Friseure in
Spanien reden – bis mich meine Sitznachbarin halb entsetzt, halb besorgt
aufklärt, dass es sich hierbei um eine Oper von Gioachino Rossini handelt.
„Figaro! Figaro!“ werde da gesungen, das kenne man doch! Ja, ich hab das
auch schon mal gehört, aber halt mit Autotune beim Wiener Cloudrapper
[5][Yung Hurn].
Heute, wo ich fast zu den Universalinformierten des Bildungsbürgertums
aufgeschlossen habe, quäle ich deshalb unfreiwillig Freunde, die mit mir in
ein Museum gehen. Während sie sich die Ausstellung so anschauen wie das
normale Menschen eben tun, laufe ich durch mit dem Anspruch, alles zu lesen
und mir alles zu merken.
Deshalb stehe ich auch mal länger vor einer Informationstafel oder laufe
zurück, wenn der Text doch noch nicht ganz sitzt. Aus geplanten zwei oder
drei Stunden Museum wird ein ganzer Tag – wenn ein Tag überhaupt reicht und
ich am nächsten Tag nicht wiederkommen muss.
Wenn man Bücher mit anderen Menschen lesen würde, dann hätte ich heute
vielleicht keine Freunde mehr, weil ich sehr gerne zurückblättere, wenn ich
mich an ein Detail nicht mehr erinnere. Gemeinsames Netflixen käme meinem
sozialen Tod gleich. Fußball schaue ich aber sehr gerne mit anderen. Zum
Glück kann man weder im Stadion noch bei Liveübertragungen zurückspulen.
1 Sep 2023
## LINKS
[1] /Werder-Bremen-Ultras-vor-Gericht/!5935991
[2] /Expertin-ueber-soziale-Ungleichheit/!5927075
[3] https://www.youtube.com/watch?v=fLll2lD4iE4
[4] /Essen-und-Revolution/!5948205
[5] https://www.youtube.com/watch?v=KoD4egwMm9c
## AUTOREN
Volkan Ağar
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