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# taz.de -- Schwimmfähigkeit und soziale Herkunft: Mein langer Weg zum Seepfer…
> Ob ein Kind schwimmen kann, hängt vom Einkommen der Eltern ab. Unser
> Autor ertrank als Teenager fast und lernte es unter Gelächter doch noch.
Bild: Die Zahl der Grundschulkinder, die nicht schwimmen können, hat sich von …
Das Schönste am Frühling sind die Frühlingsblumen. Und das Schönste am
[1][Sommer das Baden]. Das war nicht immer so. Wenn mich jemand in der
Schule blöd anmachte, bekam er eine schmerzhafte Entgegnung, weshalb sich
wenige trauten, mich blöd anzumachen. Aber ich hatte eine Achillesferse:
Schwimmen. Denn es gibt einen Grund, warum ich [2][so viel Fußball
gespielt] habe: Ich konnte bis zu meinem 13. Lebensjahr nicht schwimmen.
Was ich verdrängt hatte, drängte sich auf, als ich vergangene Woche
[3][folgende Meldung las]: Jede fünfte Grundschule in Baden-Württemberg –
wo ich aufgewachsen bin – kann keinen Schwimmunterricht anbieten, weil
dafür Bäder oder Lehrkräfte fehlen. Dabei hat sich die Zahl der
Grundschulkinder, die nicht schwimmen können, von 2017 bis 2022 bundesweit
verdoppelt. Aktuell gibt es [4][Zeichen der Besserung].
Aber laut einer Umfrage der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG)
aus dem Jahr 2022 hängt die Schwimmfähigkeit von Kindern stark [5][vom
Einkommen der Eltern ab]: in Haushalten mit 4.000 Euro Nettoeinkommen und
mehr können etwa zwölf Prozent nicht schwimmen, in solchen mit weniger als
2.500 Euro sind es knapp 50 Prozent.
Ich empfand das Nichtschwimmerleben zunächst als Privileg: Ich musste nicht
mehr lügen, um den Unterricht zu schwänzen. Und durfte während der
Doppelstunde Schwimmen mit meinen Freunden, die auch nicht schwimmen
konnten, Quatsch im Nichtschwimmerbecken machen.
Aus dieser Freiheit, die wir mit breiter Brust und entsprechenden Rufen aus
dem Nichtschwimmerbecken zelebrierten, während sich die anderen mit Kraul
plagten, wurde irgendwann eine Schmach. Je weniger wir im
Nichtschwimmerbecken wurden, desto verächtlicher wurden die Blicke der
anderen.
## „Bruder, spring einfach rein!“
Irgendwann schauten sie nicht nur wörtlich, sondern auch im übertragenen
Sinne auf uns im Nichtschwimmerbecken herab, als sie auf Anweisung des
Sportlehrers, der nie versucht hatte, uns das Schwimmen beizubringen,
zielstrebig an uns vorbei zu den Startblocks eilten.
Weil ich nicht als der letzte Depp im Nichtschwimmerbecken enden wollte,
bat ich einen alten Nichtschwimmergenossen, der zu den Schwimmenden
aufgestiegen war, um Hilfe. Wir verabredeten uns zu einer Unzeit im
Hallenbad, damit er mir ganz ohne Augenzeugen das Schwimmen [6][beibringen
konnte]. Als wir vor dem Hinweisschild „Wassertiefe 3,9 Meter“ standen,
sagte er:
„Bruder, jetzt spring einfach rein, dein Körper wird automatisch die
richtigen Bewegungen machen, glaub mir!“
„Schwör!?“
„Ich schwör!“
Ich sprang rein, wartete auf die automatischen Schwimmbewegungen, aber es
kamen panische, die alles schlimmer machten. Ich konnte mich nicht oben
halten, schluckte Wasser, mein noch kurzes Leben zog an mir vorbei.
Irgendwie rettete ich mich dann doch noch an den Beckenrand. Ich weiß
nicht, wie.
Mit dem Kumpel habe ich danach nie wieder gesprochen und mich beim
örtlichen Schwimmverein angemeldet. Das Schwimmen brachte mir dort ein
netter alter Herr bei, der sonst die Fünfjährigen mit einem Stock, an dem
sie sich festhalten konnten, die Bahnen entlangführte. An einem
Mittwochabend, als gefühlt die halbe Schule im fortgeschrittenen Modus
trainierte, hing ich an seinem Stock.
Doch verlor ich an diesem Abend endlich meine Angst vor dem Wasser. Und vor
dem Gelächter der anderen.
23 Apr 2024
## LINKS
[1] /Sommerbaeder-und-Gewalt/!5948556
[2] /Zukunft-des-Fussballs/!5992256
[3] https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/grundschulen-ohne-schwimmu…
[4] https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/schwimmen-dlrg-kinder-abzeichen-100…
[5] /Probleme-mit-Kindergrundsicherung/!6000616
[6] /Bildung-und-Klasse/!5953463
## AUTOREN
Volkan Ağar
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