# taz.de -- Weihnachten als Gast: Ich bin ein Weihnachtsschmarotzer | |
> Früher hat sich unser Autor an Weihnachten gelangweilt, weil seine | |
> Familie nicht feiert. Heute genießt er als Gast alle Vorzüge ohne | |
> Verpflichtungen. | |
Bild: Gans, Rotkohl und Klöße gegen Identitätszwang: ein ziemlich guter Deal! | |
Früher mochte ich Weihnachten gar nicht. Weil meine Familie keine | |
Weihnachten feiert und die Feiertage mich so gelangweilt haben. Heute liebe | |
ich Weihnachten. Weil ich zum Weihnachtsfest anderer Menschen eingeladen | |
werde und als Gast Vorzüge genieße, von denen Familienmitglieder nur | |
träumen können. | |
Das [1][Beste aus beiden Welten]. So hatte der einstige österreichische | |
Bundeskanzler Sebastian Kurz mal den Koalitionsvertrag seiner ÖVP mit den | |
Grünen genannt. Dabei passt diese Bezeichnung so viel besser zu meinen | |
Feiertagen. Denn für mich bedeutet Weihnachten, dass ich das nehme, worauf | |
ich Lust habe (gutes Essen, guter Wein, Geschenke), und darauf verzichte, | |
worauf ich keine Lust habe (Streit, Stress, Geschenke kaufen – ich bin ja | |
nur Gast). | |
Ich bin an Weihnachten das, wie sich die [2][FDP einen Bürgergeldempfänger | |
vorstellt]: ein Schmarotzer, der alles bekommt und nichts dafür leistet – | |
auch wenn es bei diesem schönen Fest natürlich um so viel mehr als | |
Materielles geht, was ohnehin eine total überschätzte Kategorie ist, wie | |
die postmateriellen Bürgergelddebatten erneut gezeigt haben. | |
Was mir dabei seit Schulzeiten zugute kommt, ist das Mitgefühl der | |
linksliberalen Eltern von Freund:innen, das ich schamlos ausnutze. Es | |
resultiert aus einer wilden Mischung aus Humanismus, Antirassismus und | |
christlicher Nächstenliebe: Wenn wir schon nicht die Welt retten können, | |
dann wenigstens einen proletarischen Ausländerjungen, wenn auch nur für ein | |
paar Tage! In dieser Gedankenwelt bin ich so etwas wie Brot für die Welt, | |
nur eben ohne lästiges Onlinebanking. | |
## Erst das Weihnachtsfressen, dann die Moral | |
Diesen moralischen Ablasshandel kann man natürlich kritisieren. Schließlich | |
macht er auch den Kern westlicher Entwicklungshilfe aus, die | |
Ungleichheitsverhältnisse betoniert, statt sie abzuschaffen. Man kann | |
natürlich auch eine Debatte über christliche Werte anzetteln. Aber haben | |
wir das ganze Jahr über nicht genug gestritten? Wer bin ich | |
Weihnachtsschmarotzer außerdem überhaupt, um diese netten Leute zu | |
kritisieren, die mir zu essen und zu trinken geben? Und sowieso: Erst kommt | |
das Weihnachtsfressen, dann kommt die Moral. | |
Doch auch ich habe, trotz aller Goodies, einen Preis gezahlt. Weil ich mich | |
irgendwann entschieden habe, dieses christliche Fest mitzufeiern. Statt mit | |
ihnen Jahr für Jahr durch [3][leere Straßen zu streunen] und über dieses | |
blöde Weihnachten abzulästern, habe ich den Ärger meiner muslimisch | |
sozialisierten Leidensgenossen auf mich gezogen. Was hätte ich tun sollen? | |
Geteilte Langeweile ist doppelte Langweile. | |
Und wir konnten damals ja nicht mal in den Mediamarkt gehen, um die | |
Vorführ-Playstation stundenlang zu besetzen, nur um danach wieder | |
rauszugehen, ohne irgendetwas zu kaufen. Weil auch der Mediamarkt an | |
Weihnachten zu hat. Heute findet man an Heiligabend selbst in einer so | |
gottlosen Stadt wie Berlin kaum ein anständiges Lokal, das offen hat. | |
Mit dem Unmut kann ich mittlerweile aber gut leben. Auf den Vorwurf, ich | |
würde meine religiöse und geografische Herkunft für Gans, Rotkohl und Klöße | |
verkaufen, was eigentlich ein ziemlich guter Deal ist, entgegne ich mit | |
Verweis auf ein populäres türkisches Sprichwort: „Nerede beleş oraya | |
yerleş.“ Das lässt sich wortwörtlich etwas unschön mit „Wo es etwas gra… | |
gibt, dort richte dich ein“ ins Deutsche übersetzen. [4][Sinngemäß auf | |
Schwäbisch klingt es] viel besser: Amma gschenkta Gaul guckt ma net ins | |
Maul. | |
23 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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