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# taz.de -- Armut und Obdachlosigkeit: Anklagen und ausweichen
> Wer Armut kritisiert, kann ignorant sein. Deshalb verspricht sich die CDU
> mit ihrer Hetze gegen Arme über die eigene Wählerschaft hinaus Erfolg.
Bild: Unter einer S-Bahnbrücke in Berlin-Charlottenburg
Vor Kurzem durfte ich einen größeren Besuch empfangen: Mutter, Vater, zwei
Kinder. In meiner letzten Wohnung [1][reichte der Platz] nur für einen
Gast, heute geht eine ganze Familie. Weil gute Gastgeberschaft für mich
mehr bedeutet, als Menschen zu beherbergen, machten wir uns auf den Weg,
die Hauptstadt zu erkunden. Dass die Wege in Berlin lang sind, darüber
freuten sich die Kinder, weil für sie jedes zusätzliche öffentliche
Verkehrsmittel ein weiteres Abenteuer bedeutet.
Gleich in der ersten S-Bahn setzte sich der euphorische Vierjährige neben
einen Mann, der krank aussah, abgenutzte Kleidung trug, nach Alkohol roch.
Gerade als ich den Eltern raten wollte, ihn besser woanders hinzusetzen,
griff der Mann in seine Tasche. Dann tippte er das Kind, das fasziniert die
vielen Baustellen dieser Stadt betrachtete, so bedächtig an, wie es ein
Alkoholisierter, von dem Gefahr ausgeht, nicht tun würde, und reichte ihm
eine gelbe Actionfigur.
Nachdem der Junge sie etwas schüchtern angenommen hatte, zog der Mann noch
ein Überraschungsei aus seiner Tasche und noch eines und noch etwas
anderes. Der Junge, der so viel gar nicht tragen konnte, strahlte mit jedem
Spielzeug mehr. Seine anfängliche Zurückhaltung verflog und über die
verbleibenden Stationen entwickelte sich eine Art Dialog zwischen den
beiden, die gemeinsam den Inhalt der Eier zusammenbauten. Ich kämpfte beim
Anblick der schmutzigen Hände des Mannes gegen den Impuls an, dem Kind das
Zeug aus der Hand zu reißen.
Keine fünf Minuten unterwegs und schon die erste Bekanntschaft gemacht,
auch das ist Berlin, dachte ich später. Was ich auch dachte: wie schäbig
von mir, dass ich meinem jungen Gast die Begegnung fast verunmöglicht
hätte, weil ich den vermutlich obdachlosen Mann für eine Gefahr gehalten
habe. Wie schäbig von mir auch, dass ich einem anderen Mann kürzlich in
einem S-Bahnhof, in dem man oft nach Geld gefragt wird, mit einem
unfreundlichen Nein ausgewichen bin, bevor der überhaupt einen Satz sagen
konnte. Hätte ich ihn ausreden lassen, hätte ich mich nicht schämen müssen,
als er gar nicht nach Geld, sondern nach dem Weg fragte.
## Die CDU setzt auch auf meine Empathielosigkeit
Ich musste daran denken, dass ich mittlerweile den Wagen wechsle, wenn
jemand in die Bahn steigt, der nach Geld fragt, weil ich mich der
sichtbaren und riechbaren Not nicht aussetzen will.
Es klingt banal, aber vielleicht vergesse ich es gerade, weil ich es für
selbstverständlich halte, und damit die Auseinandersetzung beende: Es ist
das eine, Armut theoretisch anzuprangern, etwa in dieser Kolumne. Etwas
anderes ist es, sich praktisch zu dieser Armut zu verhalten.
Dass der Europarat Deutschland wegen der Armut, die [2][„in keinem
Verhältnis zum Reichtum des Landes“] steht, rügt, dass er explizit die
Obdachlosigkeit problematisiert und dass Finnland diese [3][mit „Housing
First“ erfolgreich bekämpft], darüber kann ich mit der Gewissheit, auf der
richtigen Seite zu stehen, viel schreiben. Ich kann mich auch über die CDU
echauffieren, die den Menschen sogar [4][das Existenzminimum nehmen will].
Aber verspricht sich diese CDU mit ihrer Hetze nicht gerade Erfolg, weil
sie auf Ressentiments setzt, die weit über ihre eigene Wählerschaft hinaus
verbreitet sind, worauf auch Einschnitte [5][beim Bürgergeld durch die
Ampel] verweisen? Auch auf meine Empathielosigkeit und Ignoranz, mit denen
der Vierjährige noch nicht verseucht ist.
26 Mar 2024
## LINKS
[1] /Klasse-und-Wohnen/!5916442
[2] /Bericht-des-Europarats-zu-Deutschland/!5999018
[3] /Housing-first-in-Finnland/!5914243
[4] /Union-hetzt-gegen-das-Buergergeld/!5997357
[5] /CDU-und-Ampel-wollen-sanktionieren/!5996499
## AUTOREN
Volkan Ağar
## TAGS
Schwerpunkt Armut
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