| # taz.de -- Klasse und Wohnen: Ein Zimmer für mich allein | |
| > Wer als Kind ein Zimmer teilen musste, kennt die Dialektik des | |
| > Zusammenwohnens: Was Geborgenheit gibt, das hat auch Schattenseiten. | |
| Bild: Ein Zimmer teilen bedeutet: Das Schnarchen der anderen ertragen, aber auc… | |
| Klassenfahrt, Trainingslager, [1][funktionale Studi-WG] – wer das hinter | |
| sich hat, weiß spätestens dann, was es bedeutet, ein Zimmer zu teilen. Es | |
| bedeutet gemeinschaftliche Wärme, freundschaftliche Intimität, | |
| unverwechselbare Nähe. Es ist vergleichbar mit dem Gefühl, das Kinder | |
| haben, wenn sie mit anderen ein Zelt aus Decken, Kissen und Möbeln bauen, | |
| um sich darin zu verstecken und es sich heimelig zu machen. | |
| Wie alles andere, was im Leben Geborgenheit gibt, hat aber auch das | |
| Zimmerteilen Schattenseiten. Denn wenn der Zimmergenosse schnarcht oder im | |
| Schlaf furzt oder nervt, weil er abends vor dem Einschlafen nicht aufhört | |
| zu reden, oder nachts wach wird, das Licht anmacht und sehr laut vom | |
| Hochbett springt, um Wasser zu lassen, dann wird aus Enthusiasmus | |
| Entnervtheit. | |
| Wer mit einem [2][oder gleich mehreren Geschwistern ein Zimmer teilen | |
| musste], kennt diese Dialektik des Zimmerteilens und auch Strategien gegen | |
| das, was nervt. Die Einzel- oder Großwohnungskinder müssen sie erst | |
| erlernen. Im Studium habe ich deshalb nebenberuflich Kommiliton:innen | |
| beraten, die sich übereilt und in Antizipation der Revolution [3][in | |
| alternative Wohnprojekte] gestürzt haben. | |
| ## Das Schöne: gemeinsam wach werden | |
| Seitdem die Kategorie der Klasse eine [4][Renaissance in der | |
| gesellschaftlichen Debatte] erlebt, wird auch leidenschaftlich darüber | |
| diskutiert, welche Erlebnisse, biografischen Momente und alltäglichen | |
| Beobachtungen nun tatsächlich auf die Klassenherkunft zurückführbar sind – | |
| und welche nicht. So gut es ist, dass es diese Auseinandersetzungen gibt, | |
| weil sie dem Konturen geben, worüber wir reden, so sicher ist doch der | |
| Zusammenhang zwischen Wohnen (somit auch Zimmerteilen) und sozialem Status | |
| – gerade heutzutage, wo die Wohnungsfrage die soziale Frage schlechthin | |
| ist. | |
| Zu einer ganz anderen Zeit, im Jahr 1929, ist Virginia Woolfs | |
| feministisches Essay „Ein Zimmer für sich allein“ erschienen. Darin | |
| thematisiert sie die Produktionsbedingungen von Literatur von Frauen. Der | |
| Titel steht wortwörtlich und zugleich symbolisch für die Voraussetzungen | |
| solcher Literatur: Ein eigenes Zimmer braucht es nicht nur, um in Ruhe ein | |
| Buch schreiben zu können. Das eigene Zimmer stand im viktorianischen | |
| England, dessen geschlechtsspezifische Ungleichheit Woolf miterlebt hat, | |
| auch für finanzielle und geistige Unabhängigkeit. Für Frauen jener Zeit | |
| waren diese alles andere als selbstverständlich – und wenn überhaupt, | |
| genossen sie vor allem Frauen aus gehobenen Schichten. | |
| Ich bin keine Frau und lebe im 21. Jahrhundert, ein [5][eigenes Zimmer habe | |
| ich erst im Studium bezogen]. Dort habe ich meinen ersten Text geschrieben, | |
| der veröffentlicht wurde. Diese Kolumne schreibe ich sogar in einer ganzen | |
| eigenen Wohnung. Trotzdem [6][freue ich mich jedes Mal über die Wärme], | |
| wenn ich ein Zimmer teile. Das gemeinsame Wachwerden zum Beispiel wiegt | |
| dann doch immer noch schwerer als das Schnarchen. | |
| 5 Mar 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Volkan Ağar | |
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