| # taz.de -- Essen gehen früher und heute: Supermarkt nur noch mit Hemd | |
| > Restaurantbesuche gab es in der Kindheit unseres Autors nicht. Heute | |
| > kostet ein Einkauf so viel wie vor der Krise ein netter Ausflug in die | |
| > Pizzeria. | |
| Bild: Nach dem Fußball einen Döner – das war schon etwas Besonderes | |
| Essengehen kenne ich nur aus der zweiten Hälfte meines Lebens. Meinem Ich | |
| aus der ersten Hälfte würde ich das Konzept so erklären: Man geht zu | |
| fremden Menschen, die kochen für einen und machen auch wieder sauber, man | |
| gibt ihnen Geld dafür und geht dann wieder heim. Das gab es in der ersten | |
| Hälfte nicht, weil es natürlich günstiger ist, selbst zu kochen und | |
| aufzuräumen. | |
| Zwar kam Anfang des 19. Jahrhunderts der Ökonom David Ricardo mit seinem | |
| Konzept der komparativen Kostenvorteile um die Ecke. Das Konzept besagt, | |
| dass sich jedes Land auf Produktion und Export jener Güter spezialisieren | |
| soll, bei dem es die kleinsten Kosten hat (Danke, Gymnasium!). Ricardo hat | |
| das am Beispiel von England und Portugal bzw. am Handel mit Tuch und Wein | |
| erklärt. Bei uns aber galt – und gilt teilweise immer noch und wurde bis | |
| ins 21. Jahrhundert hinein und über viele Generationen als tiefe | |
| Überzeugung weitergegeben –, dass es immer am besten ist, alles selbst zu | |
| machen. | |
| Deshalb war der Döner, den es manchmal auf dem Heimweg vom Fußballturnier | |
| am Wochenende gab, das Einzige, was in der ersten Hälfte fast unter die | |
| Kategorie Essengehen fiel. Aber nur fast, weil wir den dann auch lieber auf | |
| einer Bank an einer Raststätte gegessen haben als im Imbisslokal: | |
| verschwitzte Jungs in Trainingsanzügen und ein erwachsener Mann, die an | |
| einer lauten Straße schweigend beieinandersitzen und in etwas reinbeißen, | |
| das in Alufolie eingewickelt ist. Wahrscheinlich saßen sie da, weil die | |
| Person, die darüber zu entscheiden hatte, sich ungern von anderen bedienen | |
| ließ. Auch wenn ich mich mittlerweile daran gewöhnt habe und sehr gerne in | |
| Restaurants esse: Immer wieder blitzt ein Rest Unbehagen in mir auf, wenn | |
| ein fremder Mensch mir Essen bringt. | |
| Möglicherweise muss ich mich aber erst mal nicht mehr so oft mit solchen | |
| Irritationen auseinandersetzen. Essengehen könnte für mich nach und nach | |
| wieder die Stellung einnehmen, die es einmal für meine Vorfahren hatte. Vor | |
| ein paar Tagen marschiere ich durch den einen Supermarkt, in dem ich nach | |
| Feierabend immer wieder Zuflucht vor meiner zweiten Lebenshälfte suche. | |
| Hier stehen Funktion, Preis und Masse vor wohlig-ästhetisch-übersichtlichem | |
| Einkaufserlebnis. Einkaufen ist eben nicht gleich Einkaufen. Außerdem | |
| erinnert mich der Parkplatz dieses Supermarkts an den Rastplatz von damals. | |
| ## Katastrophe Kassenzettel | |
| Ich marschiere also zielsicher durch die mir so vertraute riesige Halle, | |
| greife intuitiv nach dem, wonach ich sonst auch greife, und stelle mich an | |
| der Kasse an. Der Kassenzettel, den mir die Kassiererin in die Hand drückt, | |
| beendet dann die Vertrautheit. Ich erschrecke über den Preis des Einkaufs | |
| für die Pizzazutaten und denke an die Rechnung eines Pizzeria-Besuchs vor | |
| nicht allzu langer Zeit. Mittlerweile ist Einkaufen im Supermarkt [1][dank | |
| Inflation so teuer wie einst fein essen gehen]. Das nächste Mal ziehe ich | |
| ein Hemd an. | |
| 20 Jan 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Volkan Ağar | |
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