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# taz.de -- Auch wenn es kälter wird: Draußen rumhängen
> Rumhänger gelten als arbeitslos, abhängig oder gleich kriminell.
> Zielloses Rumhängen hat in unserer Gesellschaft keinen guten Ruf. Zu
> Unrecht.
Bild: Sommer kann jeder. Im Winter braucht es schon mehr Überzeugungsarbeit
Jedes Jahr gibt es diesen Moment: Ich sitze auf einer Parkbank, habe ein
Getränk, vielleicht gute Gesellschaft, im besten Fall auch Musik dabei, und
gleich nach dem Hinsetzen merke ich: Es ist einfach zu kalt mittlerweile,
um noch draußen rumzuhängen. Natürlich kann man stattdessen in eine Kneipe
gehen oder in ein Café. Vielleicht in ein Einkaufszentrum. Oder einfach
nach Hause. Aber ich möchte das alles nicht. Ich möchte draußen rumhängen,
auch wenn es ungemütlicher wird.
Dabei sollte man es mit dieser Art von Draußenrumhängen ja eigentlich nicht
übertreiben. Weil es eine Aktivität ist, die keinen guten Ruf hat. Denn es
ist nicht das [1][organisierte Picknick im Park] oder die Verabredung auf
der Café-Terrasse. Sondern ein zielloses Rumhängen, zwischendurch auch
Rumlaufen, ohne Zeitgefühl, ohne Auftrag, ohne teuren Konsum. Wer auf diese
Weise rumhängt, der hat vermutlich keinen Job. Oder schwänzt die Schule
oder hat kein Zuhause. Zumindest niemanden, der sich für ihn interessiert.
Möglicherweise ist er auch kriminell. Und hat ein Suchtproblem.
Im Spätsommer, als das Draußenrumhängen noch angenehmer war, habe ich
[2][„Liebe, D-Mark und Tod“] von Regisseur Cem Kaya gesehen. Mit viel
Archivmaterial erzählt der Dokumentarfilm die Geschichte der türkischen
Popkultur in Deutschland. Man bekommt Einblick in türkische Musik, die in
Deutschland entstanden ist, in Partys und Hochzeiten, aber auch in den
Alltag der Menschen, die nach Deutschland gekommen sind, und das Leben
ihrer Kinder.
Aufnahmen aus deutschen Dokus der 60er, 70er und 80er Jahre zeigen
Gastarbeiterkinder in Parks, wie sie auf Baustellen spielen oder einfach
auf der Straße rumhängen. Dazu die Erzählung: Die Eltern sind nicht da, sie
müssen viel arbeiten, können sich nicht um ihre Kinder kümmern, die
wiederum sind sich selbst überlassen. Die Kinder aber schauen oft amüsiert
und selbstbewusst in die Kamera.
## Es gab halbwegs einen Plan
Ich bin etwas später, in den 90ern, als Kind von türkischen
Gastarbeitern aufgewachsen. Ich war nicht komplett mir selbst
überlassen. Es gab die Schule, die Hausaufgabenhilfe am Nachmittag, den
Sportverein am Abend und an den Wochenenden. Es gab halbwegs einen Plan.
Aber auch ich habe viel Zeit draußen verbracht.
Als Kind hatte ich ein paar Jahre einen Wald in der Nähe. Als wir in eine
größere Stadt gezogen sind, hatte ich das Glück, dass man Fußball auch auf
dem Aldi-Parkplatz spielen kann. Als Jugendlicher habe ich meine Freunde am
Busbahnhof getroffen und wir haben dort Stunden verbracht. Die Vorurteile
mancher Mitschüler und ihrer Eltern haben uns damals geschmeichelt.
Heute treffe ich meine Freunde immer noch am liebsten draußen. Im Sommer
ist das kein Problem. Wenn es kälter wird, wollen manche aber nicht mehr.
Ich hingegen bin nicht bereit, das Draußen loszulassen. Diesen Winter werde
ich sie alle [3][mit Glühwein und Taschenwärmern] locken.
14 Nov 2022
## LINKS
[1] /Lob-des-Picknicks/!5703113
[2] /Der-Film-Liebe-D-Mark-und-Tod/!5881503
[3] /Gluehwein-und-Wegebier-nicht-mehr-erlaubt/!5735793
## AUTOREN
Volkan Ağar
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