| # taz.de -- Klasse und Kontakte: Das Unbehagen bei Netzwerkorgien | |
| > Manche Menschen sind nicht von Haus aus ans Netzwerken gewöhnt. Wer | |
| > aufsteigen möchte, muss sich auch um das soziale Kapital kümmern. | |
| Bild: „Es ist immer so anstrengend, dieses Netzwerken“ | |
| Mit dem Networking ist es so wie mit Geld oder Fußpilz: Alle beschäftigen | |
| sich damit, aber niemand redet gerne darüber. Weil man entweder den | |
| Anschein erwecken will, dass man selbst so cool ist und auf so etwas | |
| Niederträchtiges nicht angewiesen ist. Oder weil manche nie Fußpilz | |
| bekommen, einfach genug Geld haben oder eben von Haus aus netzwerken | |
| können, wie sie atmen. Es gibt nicht nur ökonomisches, sondern auch | |
| soziales und kulturelles Kapital, die sich ineinander übersetzen lassen, | |
| [1][hat der französische Soziologe Pierre Bourdieu die Bedeutung eines | |
| Netzwerks beschrieben]. | |
| Wer nicht ausreichend Geld hat, sollte sich auch um sein soziales und | |
| kulturelles Kapital kümmern, möchte er etwas an seinem sozialen Status | |
| ändern. Es gibt natürlich auch andere Gründe, weshalb Menschen das | |
| Netzwerken schwerfällt. Aber Menschen, die aus Verhältnissen mit wenig Geld | |
| kommen, kommen meistens auch aus Milieus, in denen nicht regelmäßig | |
| Netzwerkorgien stattfinden. | |
| Das ist die Theorie. In der Praxis geht es darum, [2][in solchen | |
| Situationen einfach klarzukommen]. Letztens stehe ich bei einer Konferenz | |
| zwischen zwei Vorträgen in einem Raum, in dem die Pause produktiv genutzt | |
| wird. Niemand spricht mich an. Ich könnte jemanden ansprechen. Oder mich | |
| irgendwo dazustellen. Irgendwas hält mich davon ab. Ist es die Angst vor | |
| Ablehnung? Die Angst davor, nicht mithalten zu können? Oder einfach der | |
| intuitive innere Widerstand gegen den Karriereschwanzvergleich, der | |
| stattfindet, wenn man jetzt jemanden anspricht? Ich schaffe es nicht. | |
| Aber Vorsicht! Jetzt nur nicht auffallen! Weglaufen wäre feige. Deshalb | |
| lieber bleiben. Aber nicht zeigen, dass es unangenehm ist. Einfach | |
| durchziehen. Ich hole mir ein Mini-Schokocroissant vom Buffet, schenke mir | |
| langsam Kaffee ein. Weitere wertvolle Sekunden gewinne ich, indem ich Milch | |
| in den Kaffee kippe. Ich zücke mein Handy raus, lese darauf erregt, tippe | |
| wichtig herum – bis endlich die Pausenglocke läutet und die nächste Stunde | |
| beginnt. | |
| ## Locker, aber seriös | |
| Falls es Ihnen auch so geht mit dem Netzwerken, Sie sich aber manchmal | |
| überwinden können, wie ich es mittlerweile immer wieder kann, dann beachten | |
| Sie bitte: Locker sein, aber seriös bleiben, mit den Sprüchen nicht zu weit | |
| aus dem Fenster lehnen! Verbindlich tun, aber bitte ja nicht zu nahe | |
| kommen! Wahnsinnig interessiert an den anderen tun, aber auf jeden Fall | |
| mehr auf die eigene Performance konzentrieren! | |
| Bei längeren Netzwerkorgien gibt es manchmal networkingfreie Zeitfenster, | |
| wo man eine Zigarette vor dem Netzwerk-Lokal raucht und ein Leidgenosse | |
| mitkommt, der keine Angst hat, wertvolle Networkingzeit mit Rauchen zu | |
| verschwenden, und der so etwas sagt wie: „Es ist immer so anstrengend, | |
| dieses Netzwerken!“ Dann nicke ich, lamentiere meinerseits und merke: | |
| [3][Ich bin nicht allein!] Anschließend rauchen wir auf und gehen wieder | |
| zurück in das Lokal. Weil Bourdieu recht hatte. | |
| 14 Oct 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Volkan Ağar | |
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