# taz.de -- Sozialer Aufstieg: Der Preis ist Einsamkeit | |
> Aufstiegsgeschichten sind beliebt. Doch wer aufsteigt, gewinnt nicht nur, | |
> sondern verliert auch viel. Die Entfremdung von den eigenen Leuten | |
> schmerzt. | |
Bild: Aufstieg ist gut, das weiß man, wenn man mal einen Berg hinaufgestiegen … | |
Aufsteiger. Das klingt so, als wäre die bezeichnete Person früher arm genug | |
gewesen, um sich kein Essen leisten zu können und heute ist sie reich | |
genug, um einen Sportwagen zu fahren. Das hört sich übertrieben an, oder? | |
Aber man übertreibt gerne, wenn man Aufstiegsgeschichten erzählt. Denn | |
Aufstiegsgeschichten sind so schön, für die Aufgestiegenen und vor allem | |
für diejenigen, zu denen man aufsteigt. | |
Realistisch bedeutet Aufstieg meistens Bildungsaufstieg. Über die | |
ökonomische Dimension ist damit noch nicht viel gesagt: Ein | |
Zeitungsredakteur, der aufgestiegen ist, kann genauso viel verdienen | |
[1][wie sein Vater], der in der Fabrik gearbeitet hat. Die ökonomischen | |
Auswirkungen eines Aufstiegs werden in manchen Fällen auch erst in der | |
darauf folgenden Generation spürbar, vorausgesetzt natürlich, der | |
Aufsteiger trifft die „richtigen“ Entscheidungen. Die kulturelle und | |
psychologische Dimension des Aufstiegs dagegen schiebt sich schon von | |
Generation eins zu Generation zwei zwischen Eltern und Kinder. | |
Geld lässt sich zählen, der Schmerz über die [2][Entfremdung von den | |
eigenen Leuten] ist aber nicht quantifizierbar. | |
Dabei klingt das Wort Aufsteiger doch so euphorisch. Aufstieg ist gut, das | |
weiß man, so wie man weiß, dass Regen nass macht. Das weiß jemand, der mal | |
einen Berg hinaufgestiegen ist und dann vom Gipfel in die Weite geblickt | |
hat. Das weiß jemand, dessen Fußballmannschaft in die nächsthöhere Liga | |
aufsteigt. Das weiß auch jemand, der gerne von der [3][deutschen | |
Bildungsexpansion] erzählt, dann mit den gestiegenen | |
Abiturient:innenzahlen um sich wirft. Das weiß jemand, der diese | |
ungerechte Gesellschaft so mag, wie sie ist. Denn kann man in ihr | |
theoretisch aufsteigen, dann werden sie und ihre Ordnung eine so schlechte | |
nicht sein. | |
Alle wissen, dass Aufstieg gut ist. Nur der Aufsteiger weiß es manchmal | |
nicht so ganz. Manchmal zweifelt er daran. | |
## Umgeben von Menschen, trotzdem allein | |
Denn Aufstieg macht einsam. Wer aufsteigt, kann sich im neuen Leben mit | |
vielen liebenswürdigen Menschen umgeben, mit Freundinnen und Freunden, mit | |
einer Partnerin, und fühlt sich trotzdem oft allein. Dabei kann der | |
Aufsteiger auch Kommiliton:innen und Kolleg:innen haben, die wie er | |
aufgestiegen sind. Aber das muss er erst mal herausfinden. Denn wer | |
aufgestiegen ist und um Anpassung kämpft, der versucht als Aufsteiger nicht | |
aufzufallen. | |
Wer aufsteigt, kann auch mit aller Mühe den Kontakt zu seinen Eltern | |
versuchen aufrechtzuerhalten. Ihm gehen die Gesprächsthemen beim | |
Telefonieren trotzdem schneller aus als den Kindern, die ihrem Milieu treu | |
geblieben sind. | |
Wer aufsteigt, sitzt nach einem Arbeitstag im Homeoffice auch mal alleine | |
in seiner von Büchern und Zeitungen überwucherten Wohnung, die er unbedingt | |
noch alle lesen muss, um seine Aufstiegsspuren endlich zu verwischen. Und | |
er fragt sich dann: Was wäre, wenn ich da geblieben wäre, wo ich herkomme? | |
21 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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