# taz.de -- Bildungsaufstieg und Lehrer:innen: Stress in der Schule | |
> Woran entscheidet sich, wer sozial aufsteigt und wer nicht? Engagierte | |
> und fördernde Lehrkräfte machen zweifellos einen Unterschied. Aber reicht | |
> das? | |
Bild: Leherer:innen können zu mehr Bildungsgerechtigkeit beitragen | |
Fast alle der wenigen Kinder aus migrantischen Arbeiterfamilien auf | |
meinem Gymnasium hatten [1][Stress in der Schule]. Von Jahr zu Jahr wurden | |
sie weniger, sie gaben auf oder flogen raus. Dass ein paar überhaupt das | |
Abitur schafften, lag sicher auch an einer Lehrerin, die es hinbekam, zu | |
manchen von ihnen durchzudringen, und die sich dann für sie einsetzte. | |
An diese Geschichte der ehrenhaften Lehrerin, die die Arbeiterkinder gegen | |
alle Widerstände zum Abitur trug, denke ich gern. Ich mag sie, weil sie | |
zeigt, dass unser Schulsystem eben nicht gerecht ist; dass die, die das | |
Abitur doch schaffen, viel Glück brauchen, etwa in Form einer Begegnung mit | |
einer fördernden Person. Gerade Personen, die selbst aus Arbeiterfamilien | |
kommen, davon bin ich intuitiv überzeugt, machen als Lehrkräfte so einen | |
Unterschied. | |
Aber diese Geschichte, die für mich eigentlich die romantische Erzählung | |
der Bildungsgerechtigkeit dekonstruiert, ist selbst romantisch. Das zeigt | |
eine Studie der Forscher:innen Charlotte Ostermann und Martin | |
Neugebauer, die [2][dort] die These der Klassensolidarität von | |
Lehrer:innen gegenüber Schüler:innen anhand Daten der Pisastudie | |
2003/04 widerlegen. Schüler:innen aus Arbeiterfamilien bekamen demnach | |
keine besseren Noten bei Lehrkräften ähnlicher sozialer Herkunft. Auch | |
wurden sie von ihnen weder besser unterstützt noch weniger benachteiligt. | |
Als „Mittel der Reduktion sozialer Bildungsungleichheiten“ seien sie | |
deshalb nicht geeignet. Es gebe sogar eine Tendenz, dass diese Lehrkräfte | |
von allen Schüler:innen als weniger unterstützend wahrgenommen würden, | |
weil sie besonders streng seien. Vermutlich, weil sie für ihren eigenen | |
Bildungsaufstieg besonders fleißig und diszipliniert sein mussten, so die | |
Autor:innen. | |
## Identifikationsfigur nicht ausreichend | |
Auch die französische Philosophin Chantal Jaquet beschäftigt sich mit der | |
Rolle von Lehrkräften. In ihrem Buch [3][„Zwischen den Klassen“] fragt sie, | |
was letztendlich den Unterschied macht zwischen [4][jenen Arbeiterkindern, | |
die aufsteigen], und solchen, die es nicht tun. Den sozialen Aufstieg | |
bezeichnet sie als „soziale Nicht-Reproduktion“. Anhand prominenter Namen | |
wie der Schriftstellerin Annie Ernaux illustriert sie, wie wichtig | |
Lehrpersonen als Identifikationsfiguren sein können. Strukturelle Faktoren | |
wie das „schulische Modell zusammen mit ökonomischen und pädagogischen | |
Hilfestellungen“ wiegen für Jaquet aber schwerer, wenn auch sie nicht | |
allein entscheidend sind. | |
Als historisches Beispiel nennt sie, dass in Frankreich mit eigens dafür | |
geschaffenen Institutionen gezielt Kinder aus unteren Klassen für den | |
Lehrberuf rekrutiert wurden und so sozial aufgestiegen sind. Über | |
Lehrpersonen schreibt sie: „Die Präsenz eines anderen Lebens reicht nicht | |
aus, um einen Mechanismus der Nicht-Reproduktion auszulösen.“ | |
Ich erinnere mich trotzdem gern an die Lehrerin auf meiner Schule. | |
Vielleicht schreibe ich ihr mal einen Brief und bedanke mich. | |
26 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Schule-in-Coronazeiten/!5739297 | |
[2] https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s11577-021-00779-3.pdf | |
[3] https://www.k-up.de/9783835391048-zwischen-den-klassen.html | |
[4] /Sozialer-Aufstieg/!5767803 | |
## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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