| # taz.de -- Bedeutung von 1. Mai: Auch nur ein Tag | |
| > Meine Eltern freuen sich nicht so über den 1. Mai, wie ich mich Jahr für | |
| > Jahr freue. Dabei ist der Tag der Arbeit doch ihr Tag und nicht meiner. | |
| Bild: Das Foto, das mit 1.-Mai-Grüßen an die Eltern ging: Fahrrad-Demo „MyG… | |
| Feiertage sind nicht so meins. Aber es gibt Ausnahmen. Das muslimische | |
| Zuckerfest war als Kind lukrativ, weil es immer ein paar Euros für das | |
| Händeküssen bei Älteren gab. Seit [1][meinen 20ern mag ich den 1. Mai | |
| sehr.] Weil ich im Studium Texte gelesen habe, in denen steht, dass dieser | |
| Tag ein Tag für so Menschen wie mich und meine Eltern ist; ein Feiertag | |
| derer, die hart schuften, aber nicht viel haben, wobei diejenigen, die sie | |
| hart schuften lassen, viel haben, ohne selbst hart zu schuften. Zumindest | |
| der Theorie nach ist das unser Tag. | |
| Meiner ist er eigentlich nicht, sondern der Tag meiner Mutter, die | |
| jahrelang als Reinigungskraft gearbeitet, und später, als ihre vier Jungs | |
| alt genug waren, sich den Traum von der Ausbildung zur Kindergärtnerin | |
| erfüllt hat. Es ist der Tag meines Vaters, der Nachtschichten in der | |
| Textilfabrik geschoben hat, bis es irgendwann einfach gesundheitlich nicht | |
| mehr ging. | |
| Während mich der 1. Mai aber Jahr für Jahr mit Aufregung, Stolz und | |
| Kampfeslust erfüllt – [2][ich höre dann auch „Arbeiter von Wien“ –], … | |
| er meine Eltern kalt. Auch dieses Jahr habe ich mir eine Demo ausgesucht | |
| und wieder das hübscheste Transparent abfotografiert: „Let the rich pay for | |
| the crisis“. Ich habe das Foto wieder mit 1.-Mai-Grüßen an meine Eltern | |
| geschickt. Und auch dieses Mal haben sie den Gruß mit wenig Leidenschaft | |
| erwidert. | |
| ## Keine Demogeschichten | |
| Damit habe ich mich aber, das war diesmal anders, nicht zufrieden gegeben, | |
| und gefragt, was sie denn an ihrem Tag unternommen haben. Die Antwort | |
| meiner Mutter: „Nichts. Ausgeruht.“ Mein Vater hat erzählt, er habe sich | |
| eine Demo „von der Seite aus“ angeschaut. | |
| Warum nur von der Seitenlinie, Baba? | |
| Ach, du weißt doch, Corona… | |
| Aber das ist doch dein Tag! | |
| Na ja, das ist doch eher was für Gewerkschaftsbosse und Studenten… | |
| Wieder einmal lag dann dieser Widerspruch vor uns, mit dem wir heute | |
| leichter umgehen können als noch in meinem dritten Semester. Seine Euphorie | |
| hält sich zwar weiterhin in Grenzen, wenn ich das, was ich aus den Büchern | |
| kenne, heute mit etwas mehr Affektkontrolle auf den Tisch haue. Er begegnet | |
| mir mittlerweile aber sehr wohlwollend. Dabei geht es doch um seine | |
| Interessen!, denke ich trotzdem noch. Und er lacht milde: Ach, mein Sohn. | |
| Weil wir dieses Mal aber nicht einfach das Thema gewechselt haben, als der | |
| Widerspruch sich nicht auflösen ließ, hat er doch noch Geschichten | |
| ausgepackt. Nicht von Demos, sondern von der Zeit als Betriebsrat. Bis | |
| letztes Jahr wusste ich nicht, dass er mal einer war. Er hat von einem Chef | |
| erzählt, der die Not der Belegschaft – prekärer Aufenthaltsstatus, | |
| Schulden, Familie – ausnutzte; der keinen Überstundenzuschlag und | |
| Nachtschichtzuschlag zahlen wollte. Aber irgendwann dann doch zahlen | |
| musste. | |
| Aber wie habt [3][ihr das gemacht, Baba]? | |
| Wir haben in einer Schicht drei Textilrollen fertig gemacht statt der | |
| sechs, die wir fertig machen konnten. Dann hat er gezahlt. | |
| 7 May 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Debatte-ueber-Randale-und-Polizeieinsaetze/!5769437 | |
| [2] /Geschichte-einer-Jungenhose/!5741029 | |
| [3] /Erinnerungen-an-die-Arbeiterkindheit/!5743578 | |
| ## AUTOREN | |
| Volkan Ağar | |
| ## TAGS | |
| Kolumne Postprolet | |
| Tag der Arbeit, Tag der Proteste | |
| Klasse | |
| Klassenkampf | |
| Soziale Bewegungen | |
| Schwerpunkt 1. Mai in Berlin | |
| Kolumne Postprolet | |
| Wien | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Das kommt am 1. Mai in Berlin: Die Revolution fährt Rad | |
| Das „Quartiersmanagement Grunewald“ organisiert am 1. Mai den Fahrradkorso | |
| in den Grunewald: für die Umverteilung von Reichtum. | |
| Bildungsaufstieg und Lehrer:innen: Stress in der Schule | |
| Woran entscheidet sich, wer sozial aufsteigt und wer nicht? Engagierte und | |
| fördernde Lehrkräfte machen zweifellos einen Unterschied. Aber reicht das? | |
| Wien nicht mehr lebenswerteste Stadt: Oida, wos is mid eich!? | |
| Wien ist laut einem Ranking nicht mehr die lebenswerteste Stadt der Welt, | |
| fällt sogar aus den Top Ten. Wie konnte das passieren? |