# taz.de -- Geschichten von sozialem Aufstieg: Privatversicherung und Luxuswohn… | |
> Geschichten sozialen Aufstiegs werden oft bis zum Aufstieg selbst | |
> erzählt. Die Britin Natasha Brown schreibt in „Zusammenkunft“ über das, | |
> was folgt. | |
Bild: Was passiert, wenn man oben angekommen ist? | |
Ich habe noch nie einen Zeitungsartikel ausgeschnitten und aufgehoben. Das | |
liegt wahrscheinlich daran, dass ich unter 60 bin, [1][kaum Printzeitungen] | |
konsumiere und mich selten ein Artikel so begeistert, dass er es wert wäre, | |
aufgehoben zu werden – ich fotografiere ihn höchstens mit dem Handy ab. | |
Am 15. Februar habe ich eine [2][Rezension in der Süddeutschen gelesen]. | |
Genau genommen habe ich sie dreimal gelesen. Ich habe sie ausgeschnitten. | |
Ich bin mit ihr zur Buchhandlung und habe das rezensierte Buch gekauft. Ich | |
habe es sofort ausgelesen. Das Buch ist von der Britin Natasha Brown | |
geschrieben und heißt „Zusammenkunft“. Ich habe seit dem 15. Februar noch | |
fünf andere Bücher gelesen, aber fast zwei Monate später denke ich noch | |
immer darüber nach, was in „Zusammenkunft“ stand. Dabei hat das Buch nur | |
114 Seiten, ist in einem Tag ausgelesen, man sollte meinen, es wäre | |
innerhalb eines Monats auch endlich ausgedacht. | |
Das Buch handelt von einer jungen Frau, die den sozialen Aufstieg geschafft | |
hat, ihre Geschichte beginnt also dort, wo die meisten dieser | |
Aufsteiger*innengeschichten enden. Sie beschreibt, was auf einen | |
wartet, wenn man diese ominöse Leiter endlich hinaufgeklettert ist. | |
Überraschung: Zwischen Privatversicherung und Luxuswohnung erwartet einen | |
nichts. Die Protagonistin war so sehr damit beschäftigt, diesen einen Weg | |
zu gehen, der einzig „richtige“ für Menschen mit ihrer Biografie, dass sie | |
nie gelernt hat zu erkennen, was sie wirklich möchte. Sie befindet sich in | |
einem dissoziativen Zustand, eine leere Hülle ohne Alternative auf ein | |
anderes Leben. | |
## Zu Ende gedacht | |
Aufstiegsgeschichten werden ja meistens rückblickend erzählt und gefeiert. | |
„Was unterscheidet dich von denen, die es nicht geschafft haben?“, „Wie | |
fühlt es sich an, ein Vorbild zu sein?“, wollen alle, die nie aufsteigen | |
mussten, weil sie in dem Moment ihrer Geburt bereits angekommen sind, | |
wissen. Ihre Fragen lassen keine ernüchternden Antworten zu. Es wird | |
dieselbe Euphorie erwartet, dabei gibt Natasha Browns Protagonistin sich | |
selber die ehrlichste Antwort: „Es gibt keinen Erfolg, nur das vorläufige | |
Abwenden des Versagens. Angst. Vom Vibrieren und Klingeln meines Weckers, | |
bis ich mich wieder schlafen lege. Angst. Sie liegt kalt in meinen | |
Eingeweiden, schlängelt sich meine Speiseröhre hinauf, umschließt meine | |
Kehle. […] Angst, Angst, Angst, Angst. Alles Mögliche könnte die eine Sache | |
sein, die alles versaut.“ | |
Ich fand den Begriff der [3][„Aufsteiger*innen“ immer schon irreführend]. | |
Sind wir Aufgestiegene oder nicht eher Steckengebliebene? Stecken geblieben | |
zwischen der Lebenswelt unserer Familien und der, zu der wir plötzlich | |
Zugang erhalten – aber immer nur auf Probe. Dass der soziale Aufstieg | |
entfremdet, hat schon Bourdieu gesagt und [4][Autor*innen wie Didier | |
Eribon] und [5][Annie Ernaux] haben uns fühlen lassen, was das bedeutet. | |
Aber Natasha Brown hat diesen Aufstieg zu Ende gedacht. | |
4 Apr 2022 | |
## LINKS | |
[1] /taz-Geschaeftsfuehrer-ueber-Zeitungskrise/!5832362 | |
[2] https://www.sueddeutsche.de/kultur/natascha-brown-zusammenkunft-literatur-r… | |
[3] /Sozialer-Aufstieg/!5767803 | |
[4] https://www.suhrkamp.de/buch/didier-eribon-rueckkehr-nach-reims-t-978351807… | |
[5] https://www.suhrkamp.de/buch/annie-ernaux-die-jahre-t-9783518225028 | |
## AUTOREN | |
Melisa Erkurt | |
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