# taz.de -- Kriegserfahrungen der Eltern: Alles wurde zerstört | |
> Durch den Krieg in der Ukraine erfahre ich häppchenweise Kriegsanekdoten | |
> von meinen Eltern. Daraus forme ich meine Familiengeschichte. | |
Bild: Februar 1994, eine Frau geht durch die zerstörten Straßen Sarajevos | |
Jahrzehntelang habe ich meinen Cousin bei seinem Spitznamen gerufen, ohne | |
zu wissen, das so der Wald heißt, in dem seine Mutter ihn auf der Flucht | |
vor dem Bosnienkrieg geboren hat. Bei Familienzusammenkünften habe ich mich | |
über die seltsame Tante gewundert, nur um 2015 bei den [1][Nachrichten über | |
den Syrienkrieg] beiläufig von meinen Eltern zu erfahren, dass ihre Tochter | |
vor ihren Augen auf dem Balkon von einer Granate zerfetzt wurde. Ich habe | |
mich beschwert, warum meine Schwester und ich einen großen | |
Altersunterschied haben, nur um irgendwann zu begreifen, dass es daran | |
liegt, dass meine Eltern im Krieg jahrelang getrennt waren. | |
Mein Leben lang sprechen meine Eltern kaum über ihr Erlebtes und dann sind | |
da Bilder aus Syrien, [2][Afghanistan] und jetzt aus der Ukraine und sie | |
erwähnen häppchenweise Anekdoten aus unserer Zeit im Keller, im Krieg, auf | |
der Flucht und ich forme daraus meine Familiengeschichte. | |
Trotzdem wollen die Bilder einfach nicht zusammenpassen: Meine Mutter, die | |
die beste Pita der Welt macht, ist gleichzeitig die Frau, die sich mit mir | |
im Arm vor dem [3][Bombenhagel in Sarajevo] versteckt hat. Mein Vater, der | |
von Österreicherinnen für sein gebrochenes Deutsch verachtet wird, wurde | |
mal wie die ukrainischen Männer jetzt als Held gefeiert, weil er sein Land | |
verteidigt hat. Wie genau er es verteidigt hat, hat er nie erzählt. | |
Einmal hat ihm mein Essen nicht geschmeckt, da hat er im Spaß gesagt, das | |
monatealte Weißbrot, das sie im Krieg in Wasser getränkt haben, war | |
essbarer. Ein anderes Mal sagte er, die abgelaufenen Konserven, die ihnen | |
als Hilfsgüter geschickt wurden, waren genießbarer. Das ist alles, was ich | |
von seinen drei Jahren im Krieg weiß. | |
## Keine zusammenhängende Geschichte | |
Vor ein paar Jahren habe ich Briefe gefunden, die sich meine Eltern aus dem | |
Krieg geschrieben haben. Meine Mutter wollte nicht, dass ich sie lese. Ich | |
habe nur ein paar gesehen, einen, in dem mein Vater schreibt, was für ein | |
süßes Kind das auf der Postkarte wäre, die meine Mutter ihm geschickt hat – | |
es war keine Postkarte, sondern ein Foto von mir. | |
Von mir, die ich heute vier Euro für Hipster-Kaffee ausgebe und Urlaub auf | |
Bali mache und fast eines der Tausenden Kinder gewesen wäre, die im | |
Bosnienkrieg ermordet wurden. Manche von ihnen ermordet, weil sie geweint | |
haben. Ich habe nicht geweint, als die serbischen Soldaten den letzten Bus | |
kontrolliert haben, mit dem meine Mutter und ich es aus Sarajevo | |
rausgeschafft haben. | |
In der Ukraine wurde eine Kinderklinik angegriffen. „Das Krankenhaus, in | |
dem du geboren wurdest, wurde auch zerstört“, sagt Mama. Wenn wir nach | |
Sarajevo fahren, fühle ich mich mehr wie eine Kriegstouristin als ein | |
Kriegskind. „Da habe ich gearbeitet, da haben wir gefeiert, da hast du | |
deine ersten Schritte gemacht“, sagen meine Eltern und zeigen auf etwas, | |
was ich nicht sehe – denn da ist nichts mehr. Alles wurde zerstört. Ich | |
kann aus ihren Erinnerungen einfach keine zusammenhängende Geschichte | |
basteln. | |
13 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Melisa Erkurt | |
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