# taz.de -- Vom Abgeholt-Werden: Der einsame Heimweg | |
> Manche Kinder wurden immer von ihren Eltern abgeholt. Unsere Autorin | |
> nicht. Das hat Spuren hinterlassen, bis heute. | |
Bild: Wenn mit heute jemand anbietet, mich abzuholen, lehne ich instinktiv ab | |
Ich wurde nicht abgeholt. Nicht von der Schule. Nicht, wenn ich bei | |
Freundinnen war. Nicht nach Klassenreisen vom Flughafen oder dem Bahnhof. | |
Nicht von den ersten Partys als Teenagerin. | |
In der ersten Klasse wurde ich das letzte Mal abgeholt. Meine Mutter | |
meinte, dass ich in der zweiten schon alleine nach Hause gehen wollte, sie | |
schwärmt noch heute von meiner Selbstständigkeit. Beim ersten Mal ist sie | |
mir noch heimlich hinterher, schließlich waren es ganze 30 Minuten Fußweg | |
durch einsame Gassen und über eine befahrene Straße. Ich schaffte es und | |
erleichterte meiner Mutter damit deutlich ihren ohnehin stressigen Alltag. | |
Manchmal wäre ich trotzdem gern abgeholt worden, das behielt ich aber für | |
mich. Wenn es im Winter um halb fünf kalt und dunkel war, es regnete oder | |
schneite und der Heimweg mit der schweren Tasche am Rücken besonders | |
anstrengend schien. Oder auch später, wenn ich als Jugendliche freitags | |
nach der Schule arbeiten war und mich vor dem unbeleuchteten Heimweg | |
fürchtete. Ich hätte mir auch gern die ein oder andere unangenehme | |
Situation erspart. | |
## Bloß nichts schmutzig machen | |
Wenn die anderen Kinder von ihren Eltern abgeholt wurden und sie fragten, | |
ob ich mitfahren durfte. Es war mir peinlich, danebenzustehen und zu sehen, | |
wie die Eltern reagierten. Ich lernte schnell Blicke zu deuten, und noch | |
bevor sich die Eltern eine Ausrede einfallen ließen, wieso sie mich nicht | |
mitnehmen konnten, log ich, der Bus würde ohnehin gleich gehen. | |
Ich werde nie die netten Eltern von Freundinnen vergessen, die von sich aus | |
anboten, mich mitzunehmen. Ganz behutsam stieg ich in ihr Auto, bloß nichts | |
mit meinen Schuhen schmutzig machen, bloß die Tür nicht zu stark schließen, | |
mich laut und mehrmals fürs Mitnehmen bedanken. Diese Ansprache probte ich | |
als schüchternes Kind davor in meinem Kopf. | |
Ich wurde ganz nervös, es galt, den richtigen Zeitpunkt abzufangen, kurz | |
bevor sie mich rausließen, aber noch früh genug, damit ich vorschlagen | |
konnte, schon bei der Straßenecke auszusteigen, damit sie nicht extra | |
umdrehen müssen. Leider hatte ich schon damals keinen Orientierungssinn, | |
sodass ich manchmal herumirrte, wenn sie mich an einer anderen Straßenecke | |
frühzeitig herausließen. Ich schaffte es trotzdem immer nach Hause. | |
## Lernen, abgeholt zu werden | |
Wenn mir heute wer anbietet, mich abzuholen, lehne ich instinktiv ab, eine | |
viel zu große Geste, das geht nicht, was für Umstände. Und wenn es dann | |
doch dazu kommt, stehe ich viel zu früh an dem vereinbarten Ort, als müsste | |
ich erst lernen, abgeholt zu werden, als könnte ich dabei etwas falsch | |
machen. | |
„Vielleicht kämest du, wenn ich dir sagte, dass es schön ist, direkt vom | |
Zug abgeholt zu werden. Ich sage es nicht, und du weißt es nicht, denn du | |
fährst nie weg und kommst nirgends an. Du bist immer da“, schreibt | |
[1][Dilek Güngör in ihrem Buch „Vater und ich“] und ich fühle mich von | |
ihren Worten so abgeholt wie schon lange von niemandem mehr. | |
11 Jan 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Dilek-Guengors-Buch-Vater-und-ich/!5797087 | |
## AUTOREN | |
Melisa Erkurt | |
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