| # taz.de -- Der Hausbesuch: Sie bestimmen selbst | |
| > Fünf junge Leute wohnen in Frankfurt zusammen in einer Wohngemeinschaft. | |
| > Keine*r hat ein eigenes Zimmer – einige nennen es „Wahlfamilie“. | |
| Bild: Kein Raum der WG gehört nur einer Person | |
| David, Alina, Darius, Lea und Lenz heißen sie, sie wohnen zusammen, nutzen | |
| alle Räume gemeinschaftlich. Die ersten drei sind von Anfang an dabei. | |
| Draußen: In einem ruhigen Viertel in Frankfurt ist der Lärm der Freien | |
| [1][Schule] weit zu hören. Kinder spielen und schreien, bestimmen selbst | |
| über ihren Tag. Ein kleiner Stand steht vor dem Eingang zur Schule, es | |
| werden selbstgemalte farbenfrohe Kunstwerke verkauft. Antihierarchische | |
| Energie gibt es auch im dritten Stock des angrenzenden schlichten | |
| Mehrfamilienhauses in verwaschenem gelben Putz. | |
| Drinnen: Sie führen durch die Wohnung und zeigen, dass jeder Raum eine | |
| Funktion hat; keiner gehört nur einer Person. Im Schlafsaal stehen vier | |
| Betten und eine Kleiderstange. Selbstgemalte Sterne zieren die Decke, | |
| Plakate die Wände. Vom Boden ist vor lauter Matratzen fast nichts zu sehen. | |
| Der Ruheraum ist ein Rückzugsort, hier stehen Sessel und ein Bett. Wenn | |
| doch mal jemand alleine sein will, wird gefragt. „Ich schlafe heute im | |
| Ruheraum, ist das okay?“ – und meistens ist es das. Im Arbeitszimmer haben | |
| sich alle einen eigenen kleinen Platz geschaffen. Die Schreibtische sind | |
| persönlich gestaltet, voll mit Bildern von Familie und Freund*innen. Nur | |
| Küche, Bäder, Wohnzimmer und Balkon könnte es so auch in vielen anderen WGs | |
| geben. | |
| Gemeinschaft: Die WG ist ein beliebter Treffpunkt für einen großen | |
| Freundeskreis, Frankfurt klingt hier wie ein Dorf. Dieses Zusammenleben | |
| mache die Funktions-WG aus, sagt Alina. „Davor habe ich in Zweck-WGs | |
| gewohnt, da hat man einmal alle zwei Wochen zusammen gegessen. Aber ich | |
| habe gemerkt: Ich möchte permanent Menschen um mich herum haben. Für mich | |
| war es die Idee einer Wahlfamilie, die mich hier reingezogen hat.“ Ihre | |
| Herkunftsfamilie wohnt auch in der Nähe von Frankfurt. „Nach dem Abi wollte | |
| ich aber trotzdem so schnell wie möglich ausziehen.“ Auch für David ist die | |
| Gemeinschaft lebenswichtig, „und ich wollte auch nicht nur vom alternativen | |
| Leben reden, sondern es machen.“ | |
| Ausprobieren: „Eigentlich ist es gar nicht so wild, was wir hier tun, einen | |
| krassen Unterschied gibt es nicht zu einer WG mit Wohnzimmer. Man muss es | |
| halt einfach ausprobieren“, sagt David. Und Alina: „Wenn ich neue Leute | |
| kennenlerne, bin ich immer gespannt auf die Reaktionen. Meistens heißt es | |
| dann: Finde ich cool, aber könnte ich mir nicht vorstellen. Die Fragen sind | |
| dann immer ähnlich: Was ist mit Sex, Masturbation, Privatsphäre?“ | |
| Sex, Masturbation, Privatsphäre: Es sei ein Lernprozess, sagt David: „Wenn | |
| man alleine oder in einer normalen WG wohnt, muss man kommunizieren, um | |
| etwas zu tun. Hier muss man kommunizieren, wenn man nicht dabei ist.“ Doch | |
| gerade im Sexuellen ist Kommunikation manchmal ein Problem. „Auch mit der | |
| Masturbation ist es mir zu planungsmäßig. Wenn ich im Schlafraum schlafe | |
| und dann Bock habe, müsste ich das dann vorher schon planen mit dem | |
| Ruheraum“, sagt Alina. Alles bekomme man aber voneinander auch nicht mit: | |
| „Sex schon oft, aber Masturbation nie.“ | |
| Kommunikation: Doch Alina sagt auch, dass so eine gewisse emotionale | |
| Abhängigkeit entsteht. „Das ist für mich in dem Fall aber nicht negativ | |
| konnotiert.“ Die WG sei wie ein Schwamm, alle Emotionen werden aufgesogen. | |
| „Bevor ich hier rein bin, habe ich Kommunikation als Ideal zur | |
| Konfliktlösung erhoben. Hier drin ist mir aufgefallen, dass das auch seine | |
| Grenzen hat“, sagt David. Regelmäßig wurden beispielsweise sonntags | |
| gemeinsam Probleme besprochen, beim Frühstück. Der Termin wurde dann aber | |
| hauptsächlich zur Konfrontation genutzt, die Stimmung wurde schlecht. „Wir | |
| versuchen jetzt, alles direkt anzusprechen.“ | |
| Streit: Durch die Nähe und Transparenz kommt es natürlich auch zu | |
| Auseinandersetzungen. So schrieb zum Beispiel ein Nachbar sexistische | |
| Kommentare in eine WhatsApp-Gruppe, Alina wehrte sich. Als es erneut | |
| passierte, verließ sie die Gruppe. Im Gespräch mit David nahm dieser zuerst | |
| den Nachbarn in Schutz. Sie hätten ja schon mal nett gesprochen, der | |
| schreibe so etwas nicht bewusst. „Das hat mich schon sehr aufgeregt, da | |
| erwarte ich, dass die WG hinter mir steht. Aber dann schreit man sich mal | |
| an und es ist wieder gut. Das hätte ich in früheren WGs nicht gemacht“, | |
| sagt Alina. David stimmt ihr zu, „Man hat so viel problematisches Verhalten | |
| einfach internalisiert.“ Die beiden werden im Wintersemester gemeinsam ein | |
| autonomes Tutorium geben. Thema: Kritische [2][Männlichkeiten]. | |
| Aktivismus: Alina setzt sich für Frauen- und Queerrechte ein. Ihre | |
| Schwester war lange mit einer Frau verheiratet. Demonstrationen gehören in | |
| der WG ohnehin zum Tagesprogramm. Die 1.-Mai-Demo aber war für sie ein | |
| Schock, als es in Frankfurt zu Ausschreitungen kam. Da gab es auch bei den | |
| WG-Bewohner*innen kleine Verletzungen, körperlich und sozial. Denn einige | |
| in der WG haben Verständnis für die Gewaltbereitschaft, andere nicht. „Da | |
| gab es schon große Differenzen.“ | |
| Antikapitalismus: Nicht ganz im Schatten, aber in der Nähe der Frankfurter | |
| Wolkenkratzer einigen sie sich vor allem auf eines: Die Gesellschaft | |
| braucht Veränderung. Die feministische Kampffaust und andere | |
| antifaschistische Symbole hängen überall in der WG. „Privates ist immer | |
| politisch, vor allem die Entscheidung, wie man zusammenlebt“, sagt sie. | |
| Aktivismus wird zum Alltag und Alltag zum Aktivismus. | |
| Garten: Das weckt auch mediales Interesse. „Morgens der HR, abends die | |
| taz, was ist bei uns los?“, fragt David lachend. „Irgendwas machen wir wohl | |
| richtig“, antwortet Alina. Teile der WG, vor allem David, sind in leitender | |
| Funktion beim neu gegründeten Green Office Frankfurt tätig. „Das ist eine | |
| zentrale Koordinationsstelle, die versucht, Institutionen im Gesamten | |
| nachhaltig zu gestalten“, erklärt er. An der Goethe-Universität wurde so | |
| ein selbstverwalteter [3][Campus-Garten] eröffnet, deshalb war auch der | |
| Hessische Rundfunk da. | |
| Privilegien: Zwei weitere Gemeinsamkeit gibt es innerhalb der WG: Alle fünf | |
| studieren, unter anderem Soziologie, Philosophie, Politikwissenschaften und | |
| Schauspiel. Und alle fünf kommen aus relativ sicheren Verhältnissen. „Wie | |
| kann ich produktiv für gesellschaftlichen Fortschritt meine Privilegien | |
| nutzen, das will ich lernen“, sagt David. Die Gespräche reichen dann auch | |
| von der Frankfurter Schule um Adorno bis hin zu konkreter Politik wie der | |
| staatlichen Gewalt in Kolumbien. „Studieren ist für mich ein Zugang zur | |
| Welt“, sagt David. „Man lernt, die Dinge an der Wurzel anzupacken und sich | |
| auch selbst kritisch zu hinterfragen“, sagt Alina. | |
| Tatort: Eine Sache, die sie schon in ihren Herkunftsfamilien getan haben, | |
| lassen sie sich auch hier nicht nehmen: Jeden Sonntag schaut die WG | |
| zusammen Tatort, ein Ritual. „Einfach mal den Kopf abschalten“, sagen sie | |
| dazu. Angefangen habe es beim Public Viewing in einer Kneipe, damals waren | |
| noch 15, 20 Leute dabei. Wegen der Pandemie hat sich die große Gruppe jetzt | |
| aber auf die verschiedenen WGs verteilt. An diesem Sonntag ermittelt das | |
| Team Franken, aber die [4][Folge] kommt bei der WG nicht besonders gut an. | |
| „Ziemlich schwierige Darstellung von psychischer Krankheit“, sagt Alina | |
| danach. | |
| 25 Jul 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.freie-schule-frankfurt.de/ | |
| [2] /Magazin-ueber-kritische-Maennlichkeit/!5768316 | |
| [3] https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/frankfurt/urban-farming-an-der-frank… | |
| [4] /Tatort-aus-Franken/!5767321 | |
| ## AUTOREN | |
| Marius Ochs | |
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