| # taz.de -- Der Hausbesuch: Er hat keine Angst | |
| > Die Liebe zur Musik hat Markus Ehrlich vom Vater. Als Jazzmusiker spielt | |
| > er auch im Regierungsviertel, durch die Krise hilft ihm Flexibilität. | |
| Bild: Markus Ehrlich in seiner Berliner Wohnung | |
| Die Musik hält ihn. Auch wenn sein Konzertsaal wegen der Pandemie auf die | |
| Größe eines Schlafzimmers geschrumpft ist. | |
| Draußen: Die Tram M13 quietscht, als sie in Berlin-Friedrichshain direkt | |
| vor der Tür der Goldschmiede „Julia & Amely“ hält. Durch die große | |
| Glasscheibe sind Frauen zu sehen, die konzentriert ihre kleinen Steine | |
| schleifen, bohren oder polieren. Weiter oben umarmen Kletterpflanzen | |
| Balkone, auch den von Markus Ehrlich. | |
| Drinnen: Rechts, dort wo die Sonne durchs Fenster scheint, geht es ins | |
| Wohnzimmer. Zwei Gitarren hängen an der Wand. Auf der linken Seite liegt | |
| sein halbdunkles Schlafzimmer. Es geht zum Hinterhof raus. Alles hat dort | |
| seinen Platz. Musiker*innen stehen im Ruf, chaotisch zu sein. „Ich | |
| nicht“, sagt der 33-Jährige, „aber klar, ich habe heute ein bisschen | |
| aufgeräumt.“ | |
| Schlafzimmerproduzent: Von seinem Bett bis zu seinem Mini-Studio sind es | |
| nicht mal zwei Schritte. Sein iPad hat er mit dem USB-Keyboard verbunden. | |
| Vor dem Apple-Monitor und Mischpult auf dem Schreibtisch mischt und | |
| schneidet er den Sound. Er ist ein „bedroom producer“, ein | |
| Schlafzimmerproduzent. „Der Kostendruck zwingt den Musiker, allein zu | |
| arbeiten“, sagt er. Man brauche schon längst keine Orchester mehr. In der | |
| Filmmusik zum Beispiel könne man alles virtuell darstellen. | |
| Soziale Kunst: Seine Leidenschaft gilt dem Jazz. Er hat sie zum Beruf | |
| gemacht. Er war acht Jahre alt, als er die erste Klarinette von seinem | |
| Vater bekam. Sein Tenorsaxofon, das er in einer Berliner Musikwerkstatt | |
| gekauft hat, wird im nächsten Jahr 100 Jahre alt. „Musik ist eine soziale | |
| Kunst“, sagt er. „Jazz spielt man miteinander und deswegen habe ich mir | |
| Menschen gesucht, mit denen ich mein berufliches Leben harmonisch gestalten | |
| kann.“ | |
| Die Eingreiftruppe: Ehrlich studierte am Jazz-Institut Berlin. Als er vor | |
| elf Jahren für sein Studium in die Hauptstadt zog, gründete er seine | |
| Jazz-Gruppe: [1][Markus Ehrlichs Flexible Eingreiftruppe]. „Ob zu zweit | |
| oder mit zwanzig Freunden: wir greifen ein“, sagt er. „Dort wo wir spielen, | |
| geht die Musik ins Ohr und in die Beine.“ | |
| Geld verdienen: Schon vor der Coronakrise konnten die | |
| Jazzmusiker*innen nicht von ihren Konzerten leben, „auch die Hutgage | |
| bringt nicht so viel“. Wie verdiente man Geld? Manche gingen für zwei | |
| Monate auf ein Kreuzfahrtschiff, andere auf Tournee ins Ausland oder | |
| spielten auf Hochzeiten. Und er? „Anzug anziehen und im Regierungsviertel | |
| spielen, als Job eben.“ So spiele er für eine Bundestagsfraktion oder bei | |
| einem Empfang in einem Ministerium. „Wenn du auf einen vernünftigen | |
| Stundenlohn kommen willst, musst du nur pünktlich sein und leise spielen.“ | |
| Frauen im Jazz: „Jazz ist männlich, dominant“, sagt er, „traditionell ist | |
| es so, leider. Weil Männer andere Männer ausbilden“, meint Ehrlich. Wenn | |
| eine Frau erzählt, dass sie Jazzmusikerin sei, dann denke man zuallererst, | |
| sie sei Sängerin. „Niemand kommt auf die Idee, dass sie vielleicht | |
| Kontrabassistin oder Saxofonistin sein könnte“, sagt er. Frauen haben viel | |
| zu kämpfen, auch in der Jazzszene. Ehrlich versucht, das traditionelle Bild | |
| infrage zu stellen. Marc Lippuner habe ihm einen Weg gezeigt. Der Chef der | |
| Berliner Veranstaltungsstätte „Wabe“ bietet seine Bühne vor allem an, wenn | |
| Frauen auftreten. Seitdem sucht Ehrlich für seine Eingreiftruppe auch | |
| Frauen. | |
| Die Krise: Nichts ist so wie früher. Die [2][Coronakrise hat die | |
| Musiker*innen von Ehrlichs Truppe gebeutelt]. Einige sind jetzt | |
| Harz-IV-Empfänger, andere kehrten in ihre Heimatländer nach Dänemark oder | |
| Italien zurück. Ehrlich verdient weiterhin sein Geld mit Musik. Weil er | |
| talentierter ist, schlauer? „Nein“, sagt er. „Ich bin flexibel.“ | |
| Flexibel: Flexibel zu sein heißt für ihn vieles ausprobieren und Neues | |
| lernen. Es scheint einfach zu sein, doch bei Künstler*innen funktioniere | |
| es nicht unbedingt, „weil viele für ihre bestimmte Kunstform brennen und | |
| nichts anderes machen wollen“. Wie schafft das der Saxofonist? „Ich habe | |
| angefangen, meinem Ohr zu vertrauen.“ Das bringt ihm Geld. Als Produzent | |
| begleitet er ein anderes Quartett, eine Band oder einen Solo-Klarinettisten | |
| bei Aufnahmen. Ehrlich sagt, ob und wann sie gut sind. | |
| Zur Vergangenheit: Er kehrt zu seinen musikalischen Ursprüngen zurück. | |
| Deutsche Volksmusik hat er von seinem Vater gelernt und in den Dörfern | |
| gespielt, im Süden Deutschlands, wo er herkommt. Erst später machte er sich | |
| einen Namen in der Berliner Jazzszene. „Auch das bedeutet es, flexibel zu | |
| sein“, sagt er. | |
| Sohn deutscher Flüchtlinge: Ehrlich ist in Schwäbisch Gmünd geboren und | |
| aufgewachsen. Seine Eltern bezeichnet er als „Deutsch-Rumänen“ und sich | |
| selbst als Sohn Siebenbürgener Sachsen – der ältesten deutschsprachigen | |
| Minderheit im heutigen Rumänien. Noch vor dem Zusammenbruch des | |
| kommunistischen Regimes von Diktator Nicolae Ceaușescu flohen seine Eltern | |
| in den 1980er Jahren nach Baden-Württemberg. In einem Flüchtlingsheim | |
| fingen sie ein neues Leben an. „Als meine Eltern flohen, hatten sie all | |
| ihre Habe in nur einem Rucksack“, erzählt Ehrlich, „und egal wie schwer das | |
| Leben war: mein Vater hat sein Musikinstrument immer bei sich gehabt.“ In | |
| der Musikschule Rosenstein in Heubach bildet Wilhelm Ehrlich heute junge | |
| Klarinettist*innen und Saxofonist*innen aus, wie damals seinen | |
| Sohn Markus. „Ich lerne noch immer bei ihm“, sagt Ehrlich. | |
| Enttäuschung: „Mir fehlt es, vor dem Publikum spielen zu können“, sagt | |
| Ehrlich. Nun sitzt er allein in seinem Hinterhofzimmer und produziert für | |
| andere. Oft verbringt er 15 Stunden am Tag vor dem Computer. Ist das der | |
| Preis der Flexibilität, von der er redet? Und wie flexibel kann er sein? | |
| Oft denkt er daran, seinen Job zu wechseln, zum Beispiel zu Zalando oder | |
| Linux zu gehen. Solange er nicht die ganze Luft aus den Lungen holen muss, | |
| ist ihm egal, für welchen Job er vor dem Computer sitzt. | |
| Üben: Um sein Talent nicht zu verlieren, spielt er jeden Tag Saxofon oder | |
| Klarinette. Er hat einen Proberaum gemietet, damit er die Nachbarschaft, | |
| die heute im Homeoffice arbeitet, nicht stört. Zu Hause übt er auch | |
| manchmal, bis jetzt hat sich noch niemand beschwert. „Selbst ich würde mich | |
| beschweren, wenn jemand so lange beklopptes Zeug übt“, sagt er und meint | |
| damit, dass er immer dieselbe Musikphrase in verschiedenen Tonlagen und | |
| Tempi wiederholt. | |
| Die Nachbarschaft: „Ich wohne in einem Haus, in dem ich alle meine | |
| Nachbar*innen kenne“, sagt er. „Dank meiner Nachbarschaft bin ich ein | |
| sozialer Mensch geworden, der ich früher nicht war.“ So gießt Ehrlich | |
| gemeinsam mit seinen Nachbar*innen Bäume im Viertel. Sie seien alle für | |
| einander da, sagt er und scrollt den Chat-Verlauf seiner | |
| Nachbarschaftsgruppe: Eine fragt nach Roggenmehl, ein anderer nach | |
| Chlorreiniger. Ehrlich lacht, weil er nicht helfen konnte. Aber als jemand | |
| eine Soundbox für ein Computerspiel brauchte, lieferte er. Wer sonst? | |
| Keine Angst: Noch hat Ehrlich die Hoffnung, sein Publikum wieder überzeugen | |
| zu können. „Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Aber ich wusste es sowieso | |
| nie“, sagt er. Aus Angst seien viele in der Gesellschaft überversichert. | |
| „Anstatt das Geld in die boomende Versicherungsindustrie zu stecken, wäre | |
| es besser, Freunde und die Familie zu unterstützen“, findet er. „Viele | |
| Menschen haben Angst, weil sie nicht wissen, was sie in der Zukunft | |
| erwartet. Sie befürchten, es nicht kontrollieren zu können“, sagt der | |
| Musiker und fügt hinzu: „Ich habe keine Angst. Ich habe mich daran gewöhnt, | |
| erst zu reagieren, wenn sich die Dinge ändern.“ | |
| 8 Jan 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tigran Petrosyan | |
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