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# taz.de -- Geld ausgeben und schlechtes Gewissen: Der innere Kampf
> Bei der Urlaubsplanung plagt unseren Autor ein schlechtes Gewissen: Lebt
> er über seinen Verhältnissen? Oder ist das die Verinnerlichung der
> Klassenherrschaft?
Bild: Erst die Tischdecke vollgesaut und dann noch das Gewissen
Schlechtes Gewissen ist hartnäckig wie Kerzenwachs auf Textilien. Das weiß
ich, weil ich mal meine [1][Lieblingsfußballmütze] mit Kerzenwachs
vollgesaut habe. Die Wachsklumpen musste ich mühsam mit Bügeleisen und
Löschpapier entfernen. Die Mütze wurde aber nicht mehr wie vorher, die
Flecken sind noch erkennbar. Bei schlechtem Gewissen ist es auch so: Wenn
man sich einmal damit vollgesaut hat, wird man es nicht mehr los, auch wenn
man irgendwann weiß, dass es keinen Grund für das schlechte Gewissen gibt.
Das schlechte Gewissen ist aber nicht immer ein irrationales, weil
grundloses, deshalb unnützes und somit lästiges Gefühl. Es hat durchaus
wichtige moralische und gesellschaftliche Funktionen. Es ist sogar eine
Voraussetzung für das Zusammenleben: Wie soll eine Gesellschaft
funktionieren, wenn Fehlverhalten nicht von jenen als solches erkannt wird,
die sich fehl verhalten? Der Psychoanalytiker [2][Sigmund Freud] hat das
Gewissen in der psychischen Instanz des Über-Ich verortet, von wo aus es
Zivilisation ermöglicht. Ohne dessen disziplinierende Kraft gäbe es nur
grenzenloses Begehren (Es), und die Leute würden sich wohl die Köpfe
einschlagen, fände ihr Begehren nicht sofortige Befriedigung.
Dieses Gewissen agiert aber nicht ausschließlich im Dienste der Vernunft
und der positiven Seiten der Zivilisation, von denen es auch ausreichend
negative gibt. Das Über-Ich ist bei Freud das Ergebnis der Verinnerlichung
von elterlicher Autorität. Mit dieser internalisiert der werdende Mensch
auch gesellschaftliche Normen und Herrschaft. Wenn ich ein schlechtes
Gewissen habe, das sich nach kritischer Betrachtung als irrational, weil
grundlos, deshalb unnütz und lästig herausstellt, dann muss ich also nach
dessen Quelle fragen.
## Der innere Kampf endet nie
Ich trete demnächst eine Reise an, die mich für ein paar Wochen auf einen
anderen Kontinent führt, mehrere Wochen dauern wird und deshalb ein
bisschen was kostet – weshalb ich gerade ein schlechtes Gewissen habe.
Dieses schlechte Gewissen plagt mich jedes Mal, wenn ich für etwas mehr
Geld ausgebe, als es in meiner Familie üblich war, sei es für Klamotten,
Bücher, Restaurant- und Kneipenbesuche. Am lästigsten wird es aber immer
dann, wenn ich reise um des Reisens willen und nicht, weil ich Verwandte in
der alten Heimat besuche.
Ein Teil von mir sagt dann: Das Geld für die Reise könnte man doch anders
investieren. Überhaupt solltest du das Geld lieber sparen. Und sowieso: Du
solltest nicht über deine Verhältnisse leben. Jetzt sag die blöde Reise
endlich ab! Ein anderer Teil, der kein Bock mehr auf immer die gleichen
Vorwürfe hat, wehrt sich: Halt dein Maul, Junge! Du weißt doch: Dein
schlechtes Gewissen ist die Verinnerlichung der Herrschaft der einen Klasse
über die andere. Du fährst und genießt die Reise! Keine der beiden Seiten
kann diese Schlägerei in mir aber abschließend für sich entscheiden. Und so
wird dieser Kampf wohl bis zum Ende bleiben. So wie die Flecken auf meiner
Fußballmütze.
2 Apr 2023
## LINKS
[1] /Ausnahmetalent-im-US-Fussball/!5921742
[2] /Autorin-ueber-Hierarchien-und-Sex/!5915777
## AUTOREN
Volkan Ağar
## TAGS
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