# taz.de -- Reisen mit wenig Geld: Endlich Urlaub? Unbezahlbar! | |
> Nicht alle können reisen. Unser Autor gönnt sich einen Trip – mit | |
> überschaubarem Budget. Wie schwer ist entspannen, wenn man rechnen muss? | |
Bild: Früher ist unser Autor in die Türkei gefahren, diesen Sommer ging es na… | |
In Montpellier, der letzten Station unseres Urlaubs, wird es dann doch | |
schwierig. Meine Freundin und ich quetschen uns mit unserem Gepäck durch | |
das schmale Treppenhaus, ich nehme zwei Stufen auf einmal. „Ganz nach | |
oben“, sagte der Vermieter, bevor er uns den Schlüssel gab. „Raus aus dem | |
Haus, auf den kleinen Balkon, um die Ecke, und da ist der Eingang zu eurer | |
kleinen Wohnung.“ | |
29 Grad. Schweiß rinnt über mein Gesicht, der Körper klebt. Ich freue mich | |
auf eine Dusche. Endlich sind wir an der Tür und schließen auf. Ich muss | |
zweimal blinzeln, bis ich verstehe: Bett, Küche, Dusche und Klo – alles in | |
einem Zimmer. „Scheiße“, sage ich. Meine Freundin fängt an, laut zu lache… | |
Wir kennen uns seit vielen Jahren, aber es ist unser erster gemeinsamer | |
Urlaub. Und mein erster, in dem ich mich so richtig erwachsen fühle. Als | |
Kind habe ich die Sommerferien in der Türkei verbracht, da meine Eltern | |
wenigstens einmal im Jahr ihre Verwandten sehen wollten. | |
In meinen Zwanzigern [1][habe ich Couchsurfing gemacht], habe in günstigen | |
Hostels mit fremden Menschen in einem Zimmer geschlafen oder Freund:innen | |
im europäischen Ausland besucht. Meine letzte Auszeit liegt etwa drei Jahre | |
zurück: ein paar Tage an der Ostsee, in einer kleinen Pension, natürlich | |
ein Sonderangebot. | |
## „Du brauchst Urlaub!“ | |
Urlaub ist Luxus. Jeder fünfte kann sich hierzulande keinen leisten, das | |
geht aus Daten des Statistikamts der Europäischen Union hervor. Auch ich | |
gehörte eine Zeit lang dazu. Ich bin nicht in Armut, aber auch nicht im | |
Überfluss aufgewachsen. So lernte ich, mein Geld mit Bedacht auszugeben. | |
Heute bin ich 30 Jahre alt. In den vergangenen vier Jahren habe ich mir | |
einen Notfallspartopf für alle Lebenslagen anlegen können, der mir ein | |
Gefühl von Sicherheit gibt und auf den ich nicht mehr verzichten möchte. | |
Bis vor einigen Monaten meine Freundin besorgt feststellt: „Du brauchst | |
Urlaub! Und ich komme mit.“ Wir entscheiden uns für eine Woche | |
Südfrankreich. Meine Freundin kann sich dieses Jahr mehr Urlaub leisten als | |
ich, aber um mein schlechtes Gewissen zu entlasten, legen wir gemeinsam ein | |
Budget fest, das meine Schmerzgrenze von 1.000 Euro sogar noch | |
unterschreitet: 700 Euro für jeden von uns, alles inklusive. Und die | |
Rechnerei beginnt. | |
Wir sitzen im Zug nach Miramas, einem kleinen Eisenbahnstädtchen nahe | |
Marseille. Felder, Bäume und verlassene Bahnhöfe ziehen an uns vorbei. Die | |
Luft drückt. Schräg gegenüber sitzt ein junges Paar, das sich ein Croissant | |
teilt, neben uns zwei Menschen in Trekkinghosen, bemüht, mit uns ein | |
Gespräch zu beginnen. | |
Ich erinnere mich an die vielen Autofahrten, die ich mit meiner Familie | |
hinter mir habe. Mit meinen beiden Brüdern auf dem Rücksitz, Schulter an | |
Schulter, Knie an Knie. Ich denke an die vielen Pausen an | |
Autobahnraststätten, die nötig waren, um die mehrtägige Fahrt von | |
Deutschland in die Türkei durchzustehen. | |
Mir kommt aber auch der Geschmack von selbstgebackenem Poaca meiner Mutter | |
in den Sinn: weiche und fluffige Teigtaschen, gefüllt mit Spinat, Zwiebeln | |
und Hirtenkäse, die sie stets für die Reisen eingepackt hatte. | |
Im Zug rechne ich nochmal alles durch: 258 Euro für das Interrail-Ticket | |
habe ich bereits bezahlt, 150 Euro kostet unsere erste Unterkunft pro | |
Person für drei Nächte. 292 Euro sind noch übrig. Ich lege uns ein Konto in | |
einer Haushalts-App an. „Ich koche heute Abend ein leckeres Ratatouille“, | |
sagt meine Freundin, als hätte sie meine Gedanken gelesen. „Wir kaufen auf | |
dem Weg ein.“ Ich nicke und versuche, mich zu entspannen. | |
Unsere erste Unterkunft ist ein kleines Loft auf einer historischen | |
Festung, weit weg von der Innenstadt. Drei Restaurants und eine Eisdiele | |
sind fußläufig, der nächste Supermarkt ist etwa eine halbe Stunde mit dem | |
Bus entfernt. Dafür gibt es zwei große Schlafzimmer und eine riesige | |
Wohnküche. | |
„Wir haben kein WLAN“, sage ich und versuche, nicht genervt zu klingen. | |
Meine Freundin ignoriert mich. Sie steht am Fenster. Ich lege mein Handy | |
beiseite und stelle mich zu ihr. Wir blicken über kleine Dächer, über | |
Olivenbäume am Rande des Städtchens hinweg auf eine Bucht, den Étang de | |
Berre. Eine Brise streicht über meine Haut und über uns beiden, glasklar, | |
strahlt der blaue Himmel. | |
## Aufgebrauchtes Datenvolumen | |
Am nächsten Tag machen wir einen Ausflug in die Stadt. Gleich in der ersten | |
Bäckerei kaufe ich mir eine Quiche Lorraine und ein Pain au chocolat, für | |
nur 3,50 Euro. Die günstigen Preise lassen mich aufatmen, der Biss in das | |
Schokocroissant beflügelt mich. Wir streifen durch die menschenleeren | |
Gassen, zielgerichtet Richtung Meer. Blumentöpfe zieren die Straßen, blaue | |
Fensterläden die Häuser. | |
Neben einem kleinen Hafen entdecken wir einen Strand. Die Hitze flirrt. | |
Einige wenige Menschen liegen auf ihren Handtüchern im Schatten der Bäume, | |
eine Frau sonnt sich auf einem Liegestuhl. Der Wind ist stark, das | |
Salzwasser voller Algen. Auf dem Rückweg springen wir in den Supermarkt, um | |
für den Abend und den nächsten Tag einzukaufen. | |
Rund 490 Euro habe ich bereits ausgegeben, weshalb wir uns am dritten Tag | |
nichts vornehmen. Mein Datenvolumen ist aufgebraucht. Ich liege faul auf | |
dem Sofa in der Wohnküche und lese Stefan Zweigs „Verwirrung der Gefühle“. | |
Ich muss daran denken, wie ich zum ersten Mal eine ganze Flasche Wein in | |
einem Restaurant bestellt habe, an der Ostsee, vor drei Jahren. Ich wollte | |
einen Freund beeindrucken und orderte, ohne einen Blick auf die Karte zu | |
werfen. | |
Der Kellner brachte den Wein, füllte unsere Gläser und wir prosteten uns | |
zu. Mit jedem Schluck löste sich der Kloß in meinem Hals ein bisschen mehr. | |
Bis ich irgendwann beschwipst bezahlte und den Betrag auf der Rechnung zum | |
Glück sofort wieder vergaß. | |
## Bett und Klo im selben Raum | |
Am Abend spazieren wir durch die alten Gemäuer. Es ist angenehm warm. Dicke | |
Autos stehen zwischen Jahrhunderte altem Gestein, einige reihen sich vor | |
einem Restaurant aneinander. Die Außenbereiche sind voll mit Menschen. | |
Gelächter schallt zu uns herüber, Kellner eilen zwischen den Tischen hin | |
und her. Meine Freundin und ich werfen einen Blick auf die Speisekarte: Das | |
günstigste Gericht auf dem Menü kostet 32 Euro. Wir entscheiden, selbst zu | |
kochen. | |
Tag vier. Wir verlassen Miramas und fahren mit dem Regionalzug nach | |
Montpellier. Die Universitätsstadt unweit der französischen Mittelmeerküste | |
ist bekannt für ihre malerischen Gassen, die Geigenbauer und den Stadtteil | |
Antigone, der in den 70ern im postmodernen römischen Stil gebaut worden | |
ist. Dort werden wir den Rest unseres Urlaubs verbringen. | |
„Es tut gut, wieder unter Menschen zu sein“, sage ich, als wir am Bahnhof | |
aussteigen. Meine Freundin nickt. Die Mittagshitze drückt auf die Stadt. | |
Wir laufen am berühmten Brunnen der Grazien vorbei, bahnen uns den Weg | |
durch die Menschenmenge in Richtung historisches Stadtzentrum, wo sich | |
unsere Unterkunft befindet. | |
Und dann das: Bett, Küche, Dusche und Klo, alles in einem Zimmer. Die | |
Entspannung der vergangenen Tage ist wie weggeblasen. Ich setze mich auf | |
das Bett und reibe mir verzweifelt die Augen. „Wie machen wir das?“ Statt | |
zu antworten schreit meine Freundin auf. Ich sehe sie verwirrt an, sie | |
zeigt auf die Wand hinter mir. [2][Eine Eidechse]. Jetzt schreie auch ich. | |
## Heiß und stickig | |
Wir eilen aus dem Miniapartment und setzen uns in irgendein Restaurant. In | |
diesem Moment sind mir die Preise völlig egal. Meine Freundin ordert zwei | |
Gläser Weißwein, für sich ein Fischgericht und für mich eine Bowl. Danach | |
geht es uns besser. Wir treffen eine Abmachung: Jedes Mal, wenn eine:r von | |
uns die Toilette oder die Dusche benutzt, geht die andere Person nach | |
draußen vor die Tür. | |
Erstaunlich günstige 35 Euro später kehren wir in das Apartment zurück. Ich | |
suche jeden Winkel nach der Eidechse ab. Das kleine Reptil, womöglich | |
verschreckt von unserem Gebrüll, ist wie vom Erdboden verschluckt. | |
In der ersten Nacht schlafe ich unruhig. Es ist heiß und stickig. Und die | |
Angst, die Eidechse könne wieder auftauchen, treibt mich um. Mir wird klar, | |
warum wir für die Mini-Wohnung jeweils nur 140 Euro für drei Nächte | |
bezahlen. Aber immerhin gibt es in dieser Unterkunft WLAN. | |
Den fünften Tag des Urlaubs verbringen wir damit, Montpellier zu erkunden. | |
Nach einem Besuch beim Triumphbogen Porte du Peyrou und einem überteuerten | |
Cappuccino in der Markthalle kaufen wir uns für jeweils 1,30 Euro | |
[3][Unesco-Weltkulturerbe]: zwei frisch duftende französische Baguettes, | |
die wir am Abend mit fromage und vin blanc verspeisen werden. | |
Der Magen voll, das Gemüt angeheitert, die Eidechse vergessen. Der | |
Sommerabend wird zur Sommernacht. Die Restaurants sind voll, vor den Bars | |
stehen Menschen. | |
## Auf Französisch träumen | |
Meine Freundin und ich finden Platz im Außenbereich einer Eckkneipe. Wir | |
bestellen zwei Weißwein und eine Schachtel Zigaretten, das ist in | |
Frankreich in Kneipen üblich – für rund 27 Euro. „Die teuersten Zigaretten | |
meines Lebens“, witzele ich, nehme einen Zug und muss husten. | |
Plötzlich stellt sich ein Mann vor mich. Braungebrannt in weißem Tanktop. | |
Seine blonden Locken fallen ihm ins Gesicht, sein Blick ist auf mich | |
gerichtet. Er muss Mitte 30 sein. Der Mann sagt etwas auf Französisch. Ich | |
verstehe kein Wort, lächle ihn an und lege mein Handy weg, in das ich ein | |
paar Notizen getippt habe. Meine Freundin übersetzt. | |
„Was machst du?“, fragt er. „Ich schreib nur etwas auf“, sage ich. „W… | |
schreibst du?“ „Geschichten.“„Ich höre den Leuten zu, die Geschichten | |
erzählen.“ Er grinst. „Leider spreche ich kein Französisch“, sage ich. | |
„Wenn du auf Französisch lebst, dann wirst du auf Französisch träumen“, | |
übersetzt meine Freundin. „Und wenn du auf Französisch träumst, dann wirst | |
du auf Französisch schreiben.“ | |
Ich träume nicht auf Französisch. Stattdessen drückt der Kopf, und mein | |
Magen ist übersäuert, als wir später mit ausgegestreckten Beinen auf dem | |
Bett liegen. | |
## Ein letztes Mal | |
Der Kaffee am nächsten Morgen am Place de la Canourgue, dem ältesten Platz | |
der Stadt, hebt das Gemüt. Wir sitzen neben gestutzten Sträuchern im | |
Schatten der Bäume. Ich rechne nochmal meine Ausgaben durch: Rund 40 Euro | |
sind noch übrig. Und während wir am sechsten Urlaubstag am vielleicht | |
schönsten Platz Montpelliers verweilen, überkommt mich ein melancholisches | |
Gefühl, das womöglich an jedem Ende eines Urlaubs einsetzt. | |
Unsere Taschen haben wir zum Großteil gepackt. Ein letztes Mal streunen wir | |
abends durch die Gassen. Ein letztes Mal sitzen wir in einem französischen | |
Restaurant. Ein letztes Mal werfen wir einen Blick aufs Geld. 7 Euro noch. | |
Ich atme auf. | |
Tag sieben. Die Straßen sind vormittags leer. Wir betreten den Bahnhof. Am | |
Gleis drücke ich meine Freundin fest an mich. „Ich will nicht zurück“, sa… | |
ich – trotz Rechnerei. „Ich auch nicht“, sagt sie und hält meinen Arm. D… | |
steigen wir in den Zug, der uns in den hektischen Alltag zurückfahren wird. | |
2 Oct 2023 | |
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