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# taz.de -- Kein Geld für Reisen: Hauptsache Tapetenwechsel
> Für mehr als 20 Prozent der Deutschen ist schon eine Woche Urlaub
> unbezahlbar. Unsere Autorin schlägt alternativ vor: solidarisches
> Besuchen.
Bild: Neue Eindrücke finden sich auch Zuhause
Was ist Urlaub? Einerseits etwas, wovon sich jeder Fünfte in Deutschland
nicht mal eine Woche im Jahr leisten kann. Das zeigten Zahlen von Eurostat
erst kürzlich. Das Statistikamt der EU wusste auch, dass Alleinerziehende,
wenig überraschend, mit über 40 Prozent besonders selten in der Lage sind
zu verreisen. Wir reden hier von Urlaub der Sorte Flug, Hotel, Strand oder
Berghotel mit Panoramablick und Wellness oder vielleicht auch Städtetrip
nach Florenz.
Um es gleich zu sagen: Es ist schlecht, dass so viele Menschen [1][sich
keinen Urlaub dieser Art leisten können]. Ich will nicht ein
erzwungenermaßen einfaches Leben romantisieren. Es befiel mich trotzdem der
Wunsch, an eine andere Urlaubskategorie zu erinnern, die nicht zwingend in
Hotel/Pool-Einheiten gemessen wird. Es ist die Kategorie: „Hauptsache,
anders als sonst“. Ziel: neue Eindrücke und neue Ideen.
Als ich klein war, gab es den Ferienpass bei uns im Ort. Der war für alle
Kinder, und wer gar nicht verreisen konnte, hatte mit diesem Heftchen
voller Gutscheine und Termine immerhin für die ganzen sechs Ferienwochen
Programm: Zweimal freier Eintritt ins Freibad, einmal ins Uhrenmuseum. Die
Polizeischule ließ jährlich auf dem großen Sportplatz ihre Motorradstaffel
Kunststückchen vorführen, in der Grundschule wurden Filme gezeigt, und der
Schützenverein lud zum Schießen auf den Holz-Adler (es gab Fanta zu
trinken, die hatten wir zu Hause nicht).
Ich schoss gar nicht gerne, aber etwas Neues war es – und ein Jahr später
war alles weit genug weg, um in seiner beginnenden Vertrautheit trotzdem
wieder interessant zu sein. Wir hatten außerdem Zeltlager mit der
Kirchengemeinde zur Verfügung. Und die Verwandtschaft – eine Woche bei
diesen oder jenen Cousinen gehörte auch zu den Ferienattraktionen.
## Reiseverhalten unserer Familie
Meine Eltern wussten anfangs nicht, wie man Urlaub macht. Sie sind
Nachkriegskinder vom Land, ihre Familien hatten weder Geld noch Zeit für
solche Sperenzchen. Aber sie tasteten sich langsam heran. Die Brieffreundin
meiner Mutter in Bayern zu besuchen mit dem alten Käfer, in dem man bei
Regen angeblich nasse Füße bekam: Das war quasi ihre erste Fernreise. Sie
wurden dann immer mittelständischer, Wohlstands-BRD-Möglichkeiten, und wir
machten im Sommer zwei Wochen Ferien auf dem Bauernhof. Aber seit der
Brieffreundin in Bayern zieht sich ein Muster durch das Reiseverhalten
unserer Familie: Wir besuchen Leute. Und Leute besuchen uns.
Meine Schwester, einst alleinerziehend und im Job nicht gerade überbezahlt,
konnte sich immerhin leisten, mit ihrem Sohn unsere Cousine in London zu
besuchen, die dort studierte. Meine Eltern haben gerade erst für ihre Enkel
eine Woche Sommerferien zu Hause abgehalten. Tretbootfahren auf dem Teich
im Ort. Picknick an einem Abenteuerspielplatz. Eis essen gehen.
Ich selbst hatte diesen Sommer Besuch von einem Kindheitsfreund, der noch
weniger verdient als die Leute bei der taz. Ich konnte ihm Berlin zeigen,
und weil Urlaub was Besonderes ist, leistete er sich den Besuch auf dem
Fernsehturm und den Ausflug nach Babelsberg. Das ging, weil kein Hotel
nötig war, kein teures Essengehen, kein Souvenirshopping.
## Inspirierende Eindrücke sammeln
Ich weiß, dass es Menschen gibt, die kein Geld haben, um ihren Kindern in
den Sommerferien mal ein Spaghettieis zu kaufen. Und das ist krass. Aber
bis das Problem gelöst ist, sollten alle, die können, mitmachen beim
großen, kapitalismusunabhängigen Tapetenwechsel: Besucht Freunde, ladet
Freunde ein. Zeigt ihnen was Neues, seht was Neues. Und wer keine Freunde
mit Gästebett hat, probiert was Neues im eigenen Zuhause. Hauptsache,
anders als sonst.
Ich will nichts schönreden: Bewegungsunfreiheit wegen Armut ist hässlich.
Aber die Wirkung von neuen, inspirierenden Eindrücken ist schön. Und die
kann es fast überall geben.
23 Jul 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Anne Diekhoff
## TAGS
Schwerpunkt Armut
Reisen
Inflation
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