# taz.de -- Sommerferien: Wir lernten, über spitze Steine zu laufen | |
> Ferienlager klingt nach Hagebuttentee und Linoleumboden. Unsere Autorin | |
> hat mehr Erinnerungen – und fordert Urlaub für Kinder aus allen | |
> Schichten. | |
Bild: Das Essen im Ferienlager ist längst mehr als nur ein geschmiertes Butter… | |
Kurz vor unserem Abi beschwerte sich ein Klassenkamerad von mir über die | |
Person, die als DJ beim Abschlussball auflegen sollte. Er bot an, selbst | |
für einen besseren Ersatz zu zahlen. „Geld spielt keine Rolex“, verkündete | |
er. Der Satz beschreibt einen Teil meines Jahrgangs gut. [1][Hamburgs | |
Speckgürtel], Markenkleidung. Als wir 18 wurden, das ist jetzt sieben Jahre | |
her, tauchten regelmäßig neue Minis auf dem Schulparkplatz auf. | |
Für meine Familie spielte Geld sehr wohl eine Rolle. Arm waren wir nicht, | |
darauf achten mussten wir schon. Stand für meinen Bruder und mich | |
gleichzeitig eine Klassenfahrt an, konnten die neuen Deichmann-Schuhe erst | |
im nächsten Monat gekauft werden. Meine Eltern sparten viel, damit wir im | |
Sommer ein oder zwei Wochen lang verreisen konnten. Meist gingen wir | |
Zelten. | |
Jeder Fünfte konnte sich in Deutschland 2024 [2][keinen einwöchigen Urlaub | |
leisten]. Das ergab eine Studie des Statistischen Bundesamts. Als Urlaub | |
zählten auch Reisen zu Verwandten oder Freund:innen. | |
Es sind kirchliche Träger oder Vereine wie die [3][sozialistischen Falken], | |
die jedes Jahr Tausenden Kindern und Jugendlichen günstige Ferienfahrten | |
ermöglichen. Was für manche nach Linoleumboden und Hagebuttentee klingt, | |
müsste eigentlich gesellschaftlich viel mehr anerkannt und gefeiert werden. | |
Mit meinen Eltern, meinem Bruder und befreundeten Familien verbrachte ich | |
jedes Jahr im Sommer ein verlängertes Wochenende in einem Haus der Falken | |
an der Ostsee. Weil sich die vergleichsweise niedrigen Kosten unter vielen | |
aufteilten, konnten alle mitkommen. | |
Das Gefühl, an den geliebten Ort zurückzukehren, stellte sich schon an der | |
Schranke ein, die den langen Kiesweg zum Haus absperrte. Oft hielten mein | |
Bruder und ich es nicht aus, nach dem Öffnen zurück ins stickige Auto zu | |
steigen. Lieber sprinteten wir den ganzen Weg johlend zum Haus. | |
Was ist es wert, Ferien machen zu können? Und was bedeutet es für Kinder, | |
wenn es unmöglich ist? Um diesen Fragen nachzuspüren, bin ich an den Arsch | |
der Welt gefahren. So nennt eins der teilnehmenden Kinder den | |
mecklenburgischen Ort Schlowe, wo in diesem Sommer eine Ferienfahrt der | |
Falken stattfindet. | |
Wir balancieren auf Holzbrettern durch den hartnäckigen Schlamm, dorthin, | |
wo vereinzelte Zelte stehen. Es hat tagelang geregnet, deswegen mussten die | |
Acht- bis Sechzehnjährigen ihre Zelte mehrmals ab- und an weniger | |
matschigen Orten wieder aufbauen. | |
Kurz erzählen die Kinder vom Regen, bevor sie sich wieder dem wirklich | |
Wichtigen widmen: Wer das Schweinchen in der Mitte sein darf. Ein Junge, | |
der schon den ganzen Tag mit dem Basketball unterwegs ist, will auch noch | |
mitspielen. Für seine Schwester und ihn ist das Zeltlager in diesem Sommer | |
der einzige Urlaub, erzählt er. Alle paar Jahre besuchen sie die Heimat | |
ihres Vaters, ansonsten gehe es ab und zu zum Erlebnisbad Tropical Islands. | |
In Schlowe dabei ist auch Michaela Lange, Mimi genannt. Sie ist | |
Bildungsreferentin der Falken. Bei den Zeltlagern des Vereins nehme etwa | |
ein Fünftel der Familien die Ratenzahlungen oder Hilfe bei Förderanträgen | |
in Anspruch, sagt sie. Eltern, die finanziell besser aufgestellt sind, | |
werden um einen höheren Solidaritätsbeitrag gebeten. | |
In dem Falken-Haus an der Ostsee lernte ich achtzehn Sommer lang, wie man | |
möglichst schmerzfrei über die spitzen Steine ins Wasser watet und danach | |
als erste einen Platz in einer der beiden warmen Duschen des Hauses | |
ergattert. Wenn wir Glück hatten, führten unsere Eltern Puppentheater auf, | |
schnitten Löcher in einen Bettbezug und ließen die Figuren dort | |
hervorblitzen. Abends spielten wir am liebsten im angrenzenden Waldstück | |
Fangen im Dunkeln, während wir Knicklichter trugen. Wenn es mir zu gruselig | |
wurde, lief ich absichtlich in die Arme der Fänger:innen. | |
Ich denke daran, wenn ich den Kindern beim Falken-Zeltlager beim Fangen und | |
Ballspielen zuschaue. Sie haben ganz andere Probleme als ich selbst zehn | |
Jahre früher. Viele beginnen [4][sofort von Corona zu sprechen]. Eine | |
Fünfzehnjährige erzählt etwa, seit der Pandemie ständig nur am Handy zu | |
hängen. „Meine Eltern haben mich deshalb gezwungen, mir ein Ferienprogramm | |
auszusuchen, weil ich sonst nur herumgammel“, sagt sie. | |
Begeistert war sie nicht, dachte vor allem an schlechtes Essen und | |
Langeweile. Deshalb habe sie extra viel Proviant eingepackt. Ihre neuen | |
Freund:innen lachen, als sie davon erzählt. Heute gibt es allerdings | |
selbst gemachte Sommerrollen statt mitgebrachtem Essen. Danach bricht die | |
hibbelig wirkende Truppe Teenager mit einem Bollerwagen Richtung See auf. | |
Heute schlafen sie unter freiem Himmel. | |
Ich weiß, wie es sich anfühlt, nicht bei einer Jugendreise sein zu wollen. | |
Als ich zwölf Jahre alt war, hatte mein Vater einen schweren Arbeitsunfall | |
im Hamburger Hafen. In der Hoffnung, uns damit abzulenken, wurden mein | |
Bruder und ich kurzfristig in ein Ferienheim mit kirchlichem Träger | |
geschickt. Ich kam weinend an und wechselte dreimal das Schlafzimmer. Der | |
tägliche Schwimmbadausflug half trotzdem, Abstand zu gewinnen. Sonntags | |
sollten wir beten, worin wir als Nichtchristen keine Erfahrung hatten. War | |
es vielleicht doch ein Wunder, dass der vom Baustellenkran fallende | |
Holzpfahl bloß Papas Bein und nicht seinen Kopf getroffen hatte? Mit der | |
Religion und mir war es zwar schnell wieder vorbei. Dass wir dort | |
kurzfristig aufgenommen wurden, dafür bin ich trotzdem dankbar. | |
Wie anders man durchs Leben geht, wenn man nicht ständig über Preise | |
nachdenkt, wurde mir erst mit eigenem Erspartem bewusst. Inzwischen bin ich | |
sogar an Orte außerhalb Europas gereist. Auf meiner letzten Reise begegnete | |
ich einigen Backpacker:innen, die müde zu sein schienen. Sie waren der | |
Wasserfälle oder Affen überdrüssig, schließlich hatten sie in vielen | |
anderen Ländern schon Spannendere gesehen. Es erinnert mich an den | |
Rolex-Mitschüler und daran, wie ich nicht werden will. | |
Ich weiß, dass es viele Kinder deutlich schwerer hatten als ich, sich zum | |
Beispiel über fehlendes Essen Gedanken machen mussten. Dagegen mag | |
[5][Urlaub wie ein Luxusproblem] klingen. Doch gerade für diejenigen, in | |
deren Kindheit Erwachsenensorgen einen viel zu großen Platz einnehmen, | |
können solche Räume einen großen Unterschied machen. Unbefangen Kind sein. | |
Selbstwertgefühl entwickeln. Etwas zu erzählen haben. Bei uns war es damals | |
in der Klasse sehr üblich, dass die Lehrer:innen der Reihe nach | |
abfragten, was wir in den Ferien erlebt hatten. Es war wohl nett gemeint, | |
aber ich war heilfroh, eine Antwort darauf geben zu können. Manche im | |
Klassenzimmer konnten es nicht. | |
7 Sep 2025 | |
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## AUTOREN | |
Charlina Strelow | |
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