# taz.de -- Moral beim Reisen: Teure Armut und verkümmertes Glück | |
> Westeuropäer:innen machen es sich bei moralischen Fragen ums Reisen | |
> oft leicht. Kontakt zu fremden Milieus meiden sie dabei hier wie dort. | |
Bild: Vielleicht ist das Miteinander in der Ausbeutungsgesellschaft auswärts l… | |
Kürzlich erzählte mir eine Urlaubsrückkehrerin, dass sie in Nordafrika | |
nicht auf dem Markt einkaufe: „Die Leute da verdienen im Monat soviel wie | |
wir an einem Tag. Da kauft man nicht.“ Je länger ich darüber nachdachte, | |
desto schräger wurde das Argument. Gerade deshalb wäre es doch sinnvoll, | |
dort Geld zu lassen und ins Gespräch zu kommen. Die meisten | |
Tourist:innen aber meiden lokale Bekanntschaften – jenseits vom netten | |
Tourguide – wie der Teufel das Weihwasser. Sie lieben Kulissen. Die | |
Lebenden sind nur das Servicepersonal in ihrem Open-Air-Museum. | |
Dabei lässt das Reisen Distanzen schmelzen. Wer will, kommt in der Fremde | |
mit Menschen aus verschiedenen Milieus ins Gespräch, mit denen das daheim | |
schwerer ist. Kleinkriminelle oder illegal Migrierte, Analphabeten oder | |
Menschen ohne Einkommen. Vielleicht ist das Miteinander in der | |
Ausbeutungsgesellschaft auswärts leichter, weil wir uns als Reisende und | |
Einheimische treffen, nicht als lokale Eliten und Prekäre. Weil Menschen | |
sich Geld erhoffen, weil sie gastfreundlicher und wir angstfreier sind. | |
Manche solcher Freund- und Bekanntschaften halten und begleiten mein Leben. | |
Das heißt auch Schmerz, Schuld und eine steile Lernkurve. Lange glaubte | |
ich, ihnen helfen zu können. Indem ich eine Flucht zahlte oder einen | |
Schulbesuch, eine Haftstrafe abwendete oder eine Bewerbung schrieb. Aber | |
langfristige Auswege sind nicht vorgesehen. Bewerbungen prallen ab, weil | |
die falsche Staatsangehörigkeit draufsteht. Ein Laptop hilft niemandem, der | |
im Dorf kein Internet hat. Geld verschwindet für ersehnten Konsum statt | |
Zukunft. Und immer geht es nur darum, die nächste Katastrophe abzuwenden. | |
Armut ist teuer. Und unsichtbar. | |
Linke Journalist:innen interessieren sich gern für unschuldige und | |
dramatische Opfer. Sie haben wenig übrig für das öde Dahinplätschern von | |
Menschen, die sich auch mal zu wenig kümmern, lügen, irrational handeln | |
oder stehlen. Menschen in [1][Armut] sind nur, wenn sie fehlerfrei sind, | |
von ihrer Armut entschuldigt. Aber selbst dann – alles richtig machen hilft | |
ihnen nicht viel. Mit viel Glück verkümmern ihre Talente auf einem | |
Erdbeerfeld. | |
Mit Menschen in Armut befreundet zu sein, bedeutet einen ständigen | |
persönlichen Schuldkonflikt: Wie viel will ich verzichten, wie viel hören? | |
Halten beide Seiten den Unterschied aus? Reisen ist ein Besuch bei den | |
Menschen, die unsere Insel schaffen. Ich habe lange nachgedacht, warum | |
Westeuropäer:innen sich dort so wohlfühlen. Ich weiß es nicht. Aber | |
eines weiß ich: Ohne Segregation könnten sie Schmerz und Schuld nicht | |
aushalten. Blieben wir massenhaft im Gespräch, wäre der Kapitalismus tot. | |
8 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
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