# taz.de -- Overtourism: Problem beginnt vor dem Eimersaufen | |
> Overtourism wird auf Tourismusmessen und im EU-Parlament diskutiert. | |
> Dabei geht es um mehr als die Begrenzung der Zahl von Urlauber:innen. | |
Bild: Teile der Inkastadt Machu Picchu wurden wegen des Massenandrangs vorüber… | |
Ende September traf es auch Machu Picchu: Teile der [1][historischen | |
Inkastadt] wurden vorübergehend für den Tourismus gesperrt. Der | |
Massenandrang habe zu irreparablen Schäden und Erosion an einigen | |
Steinstrukturen geführt. Machu Picchu gilt als Bilderbuchbeispiel für | |
Overtourism: Fanden sich in den 1980ern dort noch rund 100.000 Menschen im | |
Jahr ein, ist ihre Zahl mittlerweile auf etwa 1,5 Millionen angewachsen. | |
Die Besuchsobergrenzen, die maßgeblich erst auf Druck der Unesco zustande | |
kamen, gelten als zu lasch, derzeit wird gar ein neuer Flughafen nahe der | |
Stätte gebaut. Die finanzielle Abhängigkeit bleibt enorm, 90 Prozent der | |
peruanischen Tourismuseinnahmen kommen von hier. | |
Machu Picchu ist ein Extrembeispiel für Missmanagement, aber in seinem | |
Dilemma nicht allein. Das Thema Overtourism hat es auf die Agenda | |
geschafft, von Tourismusmessen bis zum EU-Parlament. Ging es lange darum, | |
immer mehr Menschen anzuziehen, ergreifen nun weltweit Destinationen | |
Maßnahmen, um Tourismus zu steuern. Was verändern sie? | |
Laut World Tourism Organization (UNWTO) hat sich der internationale | |
Tourismus von rund 25 Millionen Ankünften im Jahr 1950 auf rund 1,461 | |
Milliarden im Jahr 2019 vervielfacht. Und nach kurzer Coronadelle war man | |
2022 schon zurück bei fast 1 Milliarde. In einer vom EU-Parlament | |
beauftragten Fallstudie von 2018 werden 105 Destinationen weltweit als von | |
Overtourism betroffen bezeichnet, die meisten in Europa und Südostasien, | |
keine in Afrika. Als Risikofaktoren stehen dort unter anderem hohe | |
Übernachtungszahlen, hohe Tourismusdichte, Nähe zu Kreuzfahrthäfen und | |
unreguliertes Airbnb. Doch eine allgemeingültige Definition zu Overtourism | |
gibt es bisher nicht. Für viele beginnt er dann, wenn Einheimische oder | |
Tourist:innen massiv gestört oder Kapazitätsgrenzen erreicht sind. | |
Der Medienhype um Overtourism entstand aus den tourismuskritischen | |
Protesten in Venedig, Barcelona oder Amsterdam seit Mitte der 2010er Jahre, | |
mithin der europäischen Debatte über Billigflüge, Partytourismus, den | |
explodierenden Mietenmarkt und Gentrifizierung. Entgegen dem öffentlichen | |
Eindruck aber liegen die Top 5 der überlaufenen Ziele alle außerhalb | |
Europas. In der thailändischen Stadt Phuket kommen absurde 118,5 | |
Tourist:innen auf eineN EinheimischeN. | |
## Es geht auch um das Wie | |
Eine Studie der Tourismusforscher:innen Andreas Kagermeier und Eva | |
Erdmenger von 2019 kommt derweil zu dem Schluss, dass Overtourism nicht | |
unbedingt mit der Zahl der Besucher:innen zu tun habe. So habe München | |
eine vergleichbare Tourismusintensität wie Barcelona, aber die | |
Bewohner:innen nähmen Tourismus viel positiver wahr. Die | |
Forscher:innen mutmaßen: Weil der Tourismus moderat statt sprunghaft | |
gewachsen sei, weil es viele Rückzugsorte für Einheimische gebe, weil | |
Partytourismus kaum existiere, weil viele Münchner:innen profitierten | |
und die Klientel – bürgerliche Gutverdiener:innen – der einheimischen | |
Bevölkerung ähnlich sei. Es kommt also auch auf das Wie an. | |
Bei den neuen Maßnahmen gegen Overtourism geht es daher nicht unbedingt | |
darum, Tourismus zu reduzieren. Die UNWTO rät in einem Report von 2018 vor | |
allem zu klügerer Verteilung: mehr Attraktionen am Stadtrand, Promotion der | |
Nebensaison, bessere Infrastruktur, mehr Regulation von Hotels und privaten | |
Vermietungen. Die Niederlande etwa bewerben jetzt gezielt Destinationen | |
jenseits von Amsterdam, haben die Übernachtungszahlen in der Hauptstadt | |
gedeckelt, die Regeln für Airbnb drastisch verschärft und möchten | |
Besucher:innen stärker über das Jahr verteilen. | |
Viele Sehenswürdigkeiten arbeiten nun mit Zeitplänen, um Gäste effizienter | |
zu verteilen; am Tadsch Mahal etwa darf man sich seit 2019 nur noch drei | |
Stunden aufhalten. Und Partyziele wie Mallorca bemühen sich um weniger | |
nervende Kundschaft, mithilfe von hohen Geldstrafen gegen öffentliches | |
Saufen, einer neuen App, die vor überfüllten Orten warnt, oder einer | |
Übernachtungssteuer für Tourist:innen, die unter anderem in Umweltprojekte | |
fließen soll – und Bürger:innen zugutekommen soll. | |
Orte, die wirklich Degrowth praktizieren möchten, gibt es dagegen wenige. | |
Die thailändische Maya Bay, berühmt aus dem Film „The Beach“, war von | |
August bis Ende September 2023 gesperrt. Schon ab 2018 blieb der Strand | |
dreieinhalb Jahre geschlossen, weil die täglich 5.000 Tourist:innen das | |
Ökosystem stark geschädigt und die Korallenriffe fast völlig zerstört | |
hatten. Die Schließung der Maya Bay war eine Erfolgsgeschichte, Tiere und | |
Korallen kehrten zurück. Nun sollen sie besser geschützt werden: Boote, | |
Schwimmen und Schnorcheln sind verboten, es gibt Besuchsobergrenzen, | |
Zeitfenster und Geldstrafen für Fehlverhalten. Jährlich sind Sperrungen zur | |
Regeneration geplant. | |
## Dilemma der Maßnahmen | |
Die Widerstände gegen solche Schutzzonen aber sind oft groß; im Fall der | |
indonesischen Insel Komodo scheiterten ähnliche Pläne an Streiks der | |
Tourismusbranche. Auch viele Kreuzfahrthäfen haben Obergrenzen eingeführt, | |
sanfter Tourismus aber ist das nicht: In Dubrovnik ergießen sich weiter bis | |
zu 5.000 Kreuzfahrtpassagiere pro Tag in eine Stadt mit 40.000 | |
Einwohner:innen. | |
Die Overtourism-Maßnahmen haben ein Dilemma: Sie entzerren zwar, aber meist | |
sollen die Besuchszahlen so hoch bleiben wie irgendwie verkraftbar, weil | |
die kapitalistische Wirtschaft für Wachstum statt für Nachhaltigkeit und | |
Lebensqualität entlohnt. Es fehlen neue Belohnungssysteme. | |
Außerdem umfasst die Berichterstattung über Overtourism meist nur die immer | |
gleiche Spitze des Eisbergs. Denn die Mehrheit touristischer Orte leidet | |
unter stilleren Folgen als Eimersaufen und verstopften Straßen: | |
Umweltzerstörung, Preisinflation, prekäre Arbeitsverhältnisse, extreme | |
finanzielle Abhängigkeit gerade im Globalen Süden, fehlende demokratische | |
Beteiligung der Lokalbevölkerung, Prostitution, Drogenhandel. Negative | |
Effekte beginnen, bevor überhaupt von Massentourismus die Rede ist. Wer | |
durch ein beliebiges Mittelmeerstädtchen spaziert, fühlt sich oft wie im | |
Open-Air-Museum: Souvenirläden, überteuerte Restaurants, pittoreske Gassen | |
mit Ferienwohnungen – und im Winter gähnende Leere. Für viele Einheimische | |
unbewohnbar, ganz ohne „Overtourism“. | |
Was die aktuellen Maßnahmen bewirken, ist oft noch unklar, weil viele erst | |
in den letzten Jahren eingeführt wurden und es an Daten fehlt. Die vom | |
EU-Parlament in Auftrag gegebene Fallstudie zu 41 Beispielen weltweit | |
stellt fest: „Obwohl an den Destinationen eine Reihe von Maßnahmen | |
eingeführt worden sind, wird keine davon überwacht oder ausgewertet, was es | |
unmöglich macht, die Effekte und Kosten solcher Maßnahmen zu beziffern.“ | |
## Staunen nur für Reiche | |
Allerdings führt die Untersuchung etwa Stockholm, Riga, Vilnius und | |
Kopenhagen als Best Practice auf. Kopenhagen beispielsweise verteilt | |
Tourist:innen klüger durch die Stadt, hat in einigen Vierteln die | |
Eröffnung neuer Restaurants verboten, hat Ruhezonen für Einheimische | |
eingerichtet und fördert viel Nachhaltigkeit im Tourismus. Reicht das? | |
Der kroatische Ökonom Nebojša Stojčić hat Maßnahmen in Dubrovnik | |
analysiert, wo unter anderem Kreuzfahrtschiffe und Reisebusse limitiert | |
wurden. Es gebe jetzt eine gleichmäßigere Belastung der Altstadt, sagte er | |
der Zeitung Die Welt. Das sei aber keine langfristige Lösung. „Am Ende | |
werden wir nicht um Degrowth herumkommen.“ | |
Auch in der aktuellen Ökonomie ist ein wahrhaft sanfter Tourismus möglich – | |
doch nur mit extremen Maßnahmen. Der Himalayastaat Bhutan, der aufs | |
Bruttonationalglück statt aufs BIP setzt, hat einen Weg gefunden: Wer nach | |
Bhutan reist, muss für die Hälfte der Nächte eine Nachhaltigkeitssteuer von | |
200 US-Dollar pro Nacht zahlen. Erlaubt sind nur organisierte Reisen mit | |
registrierten Unternehmen, und Bergsteigen ist seit 2003 gänzlich verboten. | |
„High value, low impact“ heißt das Konzept, bei dem sehr wenige | |
Tourist:innen enorm viel Geld in nachhaltige Projekte spülen. Der Preis: | |
[2][Staunen über Bhutan ist nur Reichen] möglich. | |
9 Jan 2024 | |
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## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
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