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# taz.de -- Forscher über Umgang mit Armut: „Wir müssen die Heuchelei beend…
> Armut ist überall, wird aber oft ignoriert. Soziologe Franz Schultheis
> über mediale Klischees und wie arme Menschen sich ihre Würde
> zurückerobern können.
Bild: Spendendose eines Obdachlosen auf dem Straßenpflaster
taz: Herr Schultheis, warum fällt es unserer Gesellschaft schwer, [1][Armut
zu sehen]?
Franz Schultheis: Darauf gibt es nicht die eine richtige Antwort, sondern
viele – die zum Teil komplementär sind. Man muss unterschiedliche Faktoren
berücksichtigen.
Welche?
[2][Einmal ist Armut] in der Regel nicht schön anzusehen. Oft wird ihr mit
Ekel begegnet. Sie riecht auch oft nicht gut, wenn man neben ihr in der
U-Bahn sitzt. Andererseits ist es ein moralisches Problem, dass wir uns
Armut erlauben: Wir haben eine Gesellschaft mit einem extrem hohen
Lebensstandard, gleichzeitig muss jedes fünfte Kind unter der Armutsgrenze
hausen.
Weil das peinlich ist, schaut man aktiv weg?
Ja. Man vermeidet den Blick auf die Armut. Man kann das als kollektive
Verdrängung bezeichnen, ganz im Freud’schen Sinne: Was Widerstand
hervorruft, wird verdrängt. Also meidet man bestimmte Stadtviertel,
wechselt den Platz in Bus und Bahn und guckt lieber ganz entspannt in die
Luft, um nach den Vögeln zu schauen. Der Armut ins Gesicht zu sehen, ist
eine Herausforderung.
Gibt es nicht auch umgekehrt den Impuls, sich zu verbergen?
Das stimmt. Auch der Arme selbst ist verschämt. Diese zweite Seite ist sehr
wichtig. Sie kommt von einer gesellschaftlichen Stigmatisierung her. Armut
gilt in einer Gesellschaft als Makel, die teilweise meritokratisch ist.
Teilweise?
Ja, denn es ist mindestens zum Teil eine Lüge, dass man es in dieser
Gesellschaft allein mit guten Leistungen zu etwas bringen kann. Aber zum
Selbstverständnis einer liberalen Demokratie gehört, dass jedem nach seinen
Fähigkeiten gegeben wird. Dann kommt es dazu, dass Gruppen diesen
Leistungsstandards nicht gewachsen sind. Dieser Widerspruch wird aufgelöst,
indem man behauptet, dass sie das nicht wollen: also alles Faulenzer! Und
jetzt kommt es zu einem Effekt, den die Soziologen symbolische Gewalt
nennen: Der dominante Blick auf die Welt wird übernommen. Man partizipiert
an ihr, indem man sich ihr unterwirft.
… also sich für die eigene Armut schämt?
Ja. Und das hat Folgen: Wer sich schämt, vermeidet, sich in der
Öffentlichkeit zu zeigen, huscht vielleicht morgens früh schnell zu Aldi
oder Lidl, um seine Tagesration einzukaufen, und nimmt immer weniger am
gesellschaftlichen Leben teil: Abends in die Kneipe, zum Volksfest gehen,
Kinos oder erst recht Theater besuchen, all das fällt aus. Die
Nichtsichtbarkeit führt daher auch zum Verlust von Bildungsmitteln.
… weil man sich die nicht leisten kann?
Nicht unbedingt. Das sind ja oft Dinge, die gratis zur Verfügung gestellt
werden. Theoretisch könnten Armutsbetroffene auch gratis in ein Museum
kommen. Vielen kommt das aber nicht in den Sinn: Sie wissen, dass sie dort
als total deplatziert gelten würden. Armut ist insofern doppelgesichtig:
Beide Seiten sind aktiv beteiligt an der Verdrängung, weil beide Seiten ein
Interesse an ihrer Unsichtbarkeit haben.
Helfen dagegen die Standardfotos von Menschen, die bei der Tafel etwas
entgegennehmen?
Die sind nicht begeistert, fotografiert zu werden, das kann ich Ihnen
verraten: Keiner ist stolz, zur [3][Tafel zu gehen]. Es gibt welche, die
dann doch genug Selbstbewusstsein haben, um in die Kamera zu gucken und zu
sagen, ja, was wollt ihr jetzt? So ist es mit mir nun mal. Aber die große
Mehrheit guckt lieber weg. Und dann gibt es diese Vorführungen, die
einander unglaublich ähnlich sind …
Sie meinen die Reality-TV-Formate?
In denen werden Arme vorgeführt in einer für sie unglaublich
unvorteilhaften Art, wo sie ständig rauchen und Alkohol trinken – also
Vorurteile aktiv bestätigen. Da beteiligen sich Medien massiv am
öffentlichen Skandal um Armut: Eigentlich müsste sich nicht der Arme
schämen, sondern die Gesellschaft, die sich ein solches Maß an Armut
erlaubt, trotz all des Reichtums.
Welche Auswege gibt es?
Es gibt Projekte, die das angehen. Ich begleite seit Jahren eines des
Sozialunternehmens Neue Arbeit in Stuttgart. Es geht um
Langzeitarbeitslose. Wir haben dort partizipative Forschung betrieben und
daraus Bücher gemacht, an denen die Menschen selbst mitgeschrieben haben:
Sie haben andere Arbeitslose interviewt. Da kommt ziemlich unverblümt raus,
was die Leute wirklich empfinden, denken: dieses Gefühl, der letzte Dreck
zu sein, Bürger zweiter Klasse. Das führt auch zur Verweigerung der
Demokratie. Da, wo sie alle vier Jahre mal ein Kreuzchen machen könnten, um
ihre Staatsbürgerrechte wahrzunehmen, sagen die: Ihr könnt mich mal.
Sodass Wahlen nicht sozial repräsentativ sind?
Das ist längst soziologischer Common Sense. Wir wissen genug über Armut.
Wenig weiß man allerdings über die sozialpsychologische Lage derer, die
hineingeraten in diese Armutsspirale: Man verliert die Arbeit, häuft
Schulden an, muss irgendwie provisorisch wohnen, kann sich hygienisch nicht
mehr so auf dem Laufenden halten: Fürs Vorstellungsgespräch in einem
Betrieb reicht es dann irgendwann nicht mehr. Man verliert seine Kontakte,
die Familie wendet sich ab, die Freunde …
Die Verluste beschleunigen sich selbst?
Es ist ein echter Teufelskreis. Wenn man da drin ist, ist es leicht, von
außen zu sagen: Leute, rappelt euch mal auf, der Arbeitsmarkt hat sich so
entspannt, ihr findet sofort etwas. Aber das geht völlig an den Realitäten
vorbei! Wer in dieser Mühle drinsteckt, wird schnell lethargisch: Am Ende
sagen die Leute von sich selbst, mich kann keiner mehr gebrauchen.
Wie lässt sich gegensteuern?
Wir müssen die kollektive Heuchelei beenden. Es gibt entsprechende
Versuche. Hier mit den Leuten in Stuttgart haben wir momentan ein neues
Projekt. Das heißt „Jetzt sprechen wir!“. Dabei geht es darum, dass die
Gruppe von Langzeitarbeitslosen in die Öffentlichkeit tritt bei
Veranstaltungen rund um die brennenden sozialen Fragen. Da ergreifen einige
tatsächlich selbst das Wort, sie suchen das Gespräch mit Politikern, und
zwar möglichst so, als wäre es ein Gespräch auf Augenhöhe. Es geht darum,
klarzumachen: Wir sind diejenigen, um die ihr euch kümmern müsstet. Wir
haben aber keine Lobby und es gibt keine Gewerkschaft für uns. Wir sind
durch alle Löcher des Netzes gefallen.
Es gibt traditionelle Sichtweisen, die Armut romantisieren. Wäre das denn
besser?
Armut zu romantisieren, ist das Schlimmste. Wenn man beginnt, da eine
Bohème draus zu machen, das wäre das Letzte, was man braucht. Ein Blick von
außen wird ermöglicht im Rahmen der spinozistischen Regel, den anderen
nicht zu verabscheuen, nicht zu verlachen, nicht einfach zu bemitleiden,
sondern eben zu versuchen, ihn zu verstehen: Das ist ein Blick, der ihnen
die Menschenwürde belässt. Es gibt aber eben auch hier die Möglichkeit, den
Betroffenen die Kamera in die Hand zu drücken, um sich selbst aus ihrem
eigenen Blickwinkel sichtbar zu machen, alles, was sie glauben, was zu
ihrem Alltag gehört – die Gegenstände, die ihnen bleiben, die Orte, wo, und
die Leute, mit denen sie sind.
13 Jun 2023
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## AUTOREN
Benno Schirrmeister
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