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# taz.de -- Diebstahl als Gerechtigkeit: Warum ich gerne klaue
> Klauen gilt als unmoralisch. Dabei ist es ein Schlag gegen ein System,
> das Waren mehr respektiert als Menschen. Eine Ode an den
> Fünf-Finger-Rabatt.
Bild: Winona Ryder wurde 2001 bei der Vergesellschaftung von Luxusgütern erwis…
Vor ein paar Wochen gab es in Norwegen Aufregung, die hierzulande nicht
mehr als eine lustige Randnotiz war. Bjørnar Moxnes, der Vorsitzende der
norwegischen sozialistischen Partei Rødt, ist von seinem Amt
zurückgetreten, weil er dabei erwischt wurde, wie er am Flughafen eine
Sonnenbrille von Hugo Boss geklaut hat. Hat er es überhaupt nötig zu
klauen, fragten viele. Ich frage mich viel eher: Warum am Flughafen? Das
ist wahrlich nicht der beste Ort für Diebstahl.
Und damit kenne ich mich aus. Ich bin Mitte 30, arbeite Teilzeit in einer
Behörde und lebe in einer Altbauwohnung mit einem sogenannten alten
Mietvertrag. Trotzdem geht fast die Hälfte meines Gehalts für Miete drauf.
Auch ich habe es nicht unbedingt nötig, aber ich klaue gerne. Nicht weil
ich etwa Kleptomanie habe, sondern weil es mir ein Gefühl von Ausgleich
gibt. Es ist aufregend, es beruhigt mich und vor allem finde ich es
gerecht. Denn eine Praxis, die wir normalerweise Jugendlichen in ihren
rebellischen Antiphasen oder in einer Notlage zuschreiben, kann auch
kapitalismuskritische Praxis sein.
Neun Euro für Olivenöl, 8 für Kaffee, ein Granatapfel kostet 3 Euro und
eine Mango manchmal 4 Euro[1][. Gesund ernähren ist für
Gutverdiener:innen]. Nicht umsonst gibt es inzwischen [2][ein
Twitter-Genre, in dem Leute ihren Einkauf auf dem Warenband zeigen] und man
schätzen soll, was dafür bezahlt werden musste. Natürlich erscheint einem
das Ergebnis jedes Mal als [3][unglaubliche Frechheit].
Doch diese Limitation, die man im Laden spürt und die in allen Facetten auf
gesellschaftlicher Ungerechtigkeit basiert, kann ich nicht akzeptieren. In
diesem Land soll es der Wirtschaft gut gehen und nicht den Menschen,
deshalb wird Reichtum geschützt und Sozialpolitik gegen arme Menschen
gemacht. Ich brauche nicht jeden Monat neue Kleidung, aber wenn ich neue
Kleidung brauche, dann möchte ich dafür nicht am Essen sparen müssen. Das
Problem lässt sich nicht von heute auf morgen lösen, deshalb muss ich mich
als Individuum in diesem kapitalistischen System zurechtfinden.
Im Juni dieses Jahres gab das EHI Retail Institut, ein Forschungs- und
Bildungsinstitut für den deutschen Handel, [4][eine Studie heraus], die
einen Anstieg der Verluste durch Ladendiebstahl feststellte. Gemessen wird
das durch die Inventurdifferenzen, die auf Diebstahl durch Kundschaft,
Beschäftigte, Servicekräfte und Liefernde zurückzuführen sind. Der Anteil
des Verlusts, der sich für den gesamten deutschen Handel aus Diebstahl
ergibt, ist von 12 auf 15 Prozent gestiegen. Das bedeutet, im Jahr 2022
wurden Waren im Wert von 3,73 Milliarden Euro gestohlen. Also gut 30 Euro
pro Bürger:in jährlich.
Die Zahlen sind damit wieder auf einem ähnlichen Niveau wie vor der
Coronapandemie. Der Autor der Studie, Frank Horst, kommt trotzdem zu dem
Schluss, „dass wieder vermehrt Langfinger ihr Unwesen in den
Einkaufsstraßen treiben“, und „dass der Anstieg der Ladendiebstähle nach
wie vor eine große Gefahr darstellt“.
Das Bild des notorisch kriminellen „Langfingers“ wird genutzt, um eine
Gefahr darzustellen. Doch wer ist denn eigentlich die Gefahr in diesem
Land? Diebstahl wird kriminalisiert, aber würden wir stattdessen [5][Löhne
kriminalisieren, die nicht zum Leben ausreichen], gäbe es vielleicht gar
nicht so viele „Langfinger“. Doch die Ausbeutung der Menschen wird
hierzulande niemals kriminalisiert werden, schließlich steht hier das
Wohlergehen der Wirtschaft immer über dem Wohlergehen der Menschen. Ich
halte Reichtum für gefährlicher als Diebstahl. Und vor allem für moralisch
fragwürdiger.
Wenn ich klaue, gibt es aber Regeln. Ich klaue nicht von Menschen oder in
kleinen inhabergeführten Läden, sondern von Konzernen. Ich will niemandem
was wegnehmen, außer denen, die eindeutig zu viel haben und die es gar
nicht merken. Im Einzelhandel sind Verluste mit einkalkuliert und zwar in
den Preisen. Man kann daraus schlussfolgern, dass andere Kund:innen also
für einen Diebstahl mitbezahlen, aber in dieser Logik muss man dann auch
daran glauben, dass die Preise sinken, wenn weniger geklaut wird.
Natürlich bin ich privilegierte Diebin. Ich bin nicht dazu gezwungen, zu
klauen, und aufgrund meiner gesellschaftlichen Stellung brauche ich weniger
Angst vor einer Bestrafung zu haben als eine Person, die aus der Not heraus
klaut.
Ich klaue beim täglichen Einkauf. Dabei packe ich alle Lebensmittel in
meinen Jutebeutel und am Kassenband vergesse ich dabei, ein paar aufs Band
zu legen. Sollte das jemandem auffallen – und das war noch nie der Fall –,
kann ich einfach sagen, dass ich es verschusselt habe. Wer Lebensmittel in
seine Jackentasche steckt, kommt damit nicht durch.
Aufgeregt bin ich beim Klauen schon lange nicht mehr, und dahinter
versteckt sich auch die Kunst, sich so zu verhalten, dass es dir niemand
ansieht, dass du gerade etwas Verbotenes tust.
Auf Sicherungen sollte man achten und sie entfernen, einfach im Gehen
fallen lassen oder auf ein anderes Produkt kleben. Das fällt niemandem auf.
Außer vielleicht dem Ladendetektiv, den man daran erkennt, dass er sehr
gemütlich und mit viel Zeit durch die Gänge schlendert. Er hat nichts aus
den (Tief-)Kühlschränken im Wagen und guckt viel zu lange auf Produkte.
Bleiben da die Kameras, doch in der Regel haben Supermärkte nicht so viele
personelle Ressourcen, um jemanden dafür zu bezahlen, tatsächlich die ganze
Zeit auf die Bildschirme zu schauen.
Ich klaue auch online. Ich bestelle mir Sachen, die in den meisten Fällen
in den Hausflur gestellt werden. Das liegt natürlich wiederum an den
fatalen Arbeitsbedingungen der Paketzusteller:innen, die einfach keine
Zeit haben für die persönliche Zustellung mit Unterschrift. Aus dieser
Ungerechtigkeit drehe ich meinen Vorteil. Ich hole mein Paket aus dem
Hausflur, sage der Firma, dass nichts angekommen ist, und bekomme mein Geld
zurück. Die Paketzusteller:innen haben dadurch keinen Nachteil, da
das mit der Firma des Produkts geklärt wird und nicht der
Versanddienstleister dafür aufkommen muss.
Ich klaue auch Mobilität, das heißt, ich zahle kein Geld für öffentliche
Verkehrsmittel. Ja, auch das 49-Euro-Ticket ist mir zu teuer. Stattdessen
setze ich mich in Bussen und Bahnen immer in die Nähe der Tür, damit ich
schneller rauskann, falls Kontrolleur:innen einsteigen. Die kann man
immer gut erkennen, auch wenn sie zivil unterwegs sind. Es sind vier
Erwachsene mit kleinen Umhängetaschen (da sind die Kontrollgeräte drin),
die sich an der Haltestelle aufteilen, um durch jeweils eine andere Tür
einzusteigen.
Wenn man im Laden jemanden sieht, der oder die gerade klaut, stellt sich
bei Menschen manchmal dieses Gefühl ein: Frechheit! Denn wir haben gelernt:
Klauen gehört sich nicht. Aber genauso, wie man in der Bahn immer besonders
lang zum Ticket-Raussuchen brauchen sollte, [6][damit Leute ohne Ticket
wertvolle Zeit erhalten, um auszusteigen], kann man beim Beobachten von
Dieben auch denken: Respekt, dass du diesen Weg findest in einem System, in
dem Waren mehr wert sind als dein Wohlbefinden.
15 Aug 2023
## LINKS
[1] /Ausnahmezustand-durch-Inflation/!5945577
[2] https://twitter.com/roter_pander/status/1689574641143005184
[3] /Studie-zu-Lebensmittelpreisen/!5929721
[4] https://www.ehi.org/produkt/studie-inventurdifferenzen-2023-pdf/
[5] /Erhoehung-des-Mindestlohns-um-41-Cent/!5941553
[6] /Ersatzfreiheitsstrafe-fuer-Arme/!5908952
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