| # taz.de -- Ästhetisierung der Arbeiterklasse: Der Traum vom Armsein | |
| > Sich als arm auszugeben, ist angesagt. Ohne Scham inszenieren diese | |
| > Klassentourist*innen ihre angebliche Armut und Klassenzugehörigkeit. | |
| Bild: Dr Martens: Schuhe für die Arbeiterklasse von gestern und die Hipster vo… | |
| In Berlin ist es mir schon zwei-, dreimal passiert, dass ich einer Person | |
| Geld auslege, sie durchfüttere oder ihr Bier ausgebe, weil sie behauptet, | |
| pleite zu sein. In einem Nebensatz rutscht ihr irgendwann raus, dass die | |
| Eltern Anwälte, Unternehmerinnen oder Ärzte seien. „Ich hab' nie gesagt, | |
| dass ich arm bin. Nur pleite.“ Implizit gibt sie damit zu, dass das Erbe | |
| noch nicht auf dem Konto ist und deshalb das Leben in Armut abgefeiert | |
| werden kann. Immer wieder treffe ich Menschen, die bei jeder Gelegenheit | |
| erwähnen, dass sie kein Geld haben. Dass sie sich nichts leisten können. | |
| Dass die Mieten hier so hoch seien. Dass Mama und Papa diese bezahlen, | |
| behalten sie für sich. | |
| In den Kommentarspalten von Berliner Meme-Seiten wie | |
| [1][„berlinauslandermemes“] oder [2][„berlinclubmemes“], die auf Instag… | |
| mittlerweile mehrere Hunderttausend Follower haben, berichten unzählige | |
| Leute von ähnlichen Erfahrungen mit Personen, die einen auf arm machen. | |
| „Wenn du jemandem das ganze Jahr seine Abendessen zahlst und dann erfährst, | |
| dass er jemandes Vermieter ist“, schreibt eine Nutzerin. „Wenn du so reich | |
| bist, dass Armut zu deiner Ästhetik wird“, schreibt ein anderer Nutzer. | |
| „Hoffentlich kommt der Dauerauftrag meiner Eltern bald an“, macht sich ein | |
| Meme lustig. | |
| Auch Leute, die aus wohlhabendem Haus kommen, können pleite sein. Die | |
| Angst, die damit einhergeht, ist real, aber was sie von Menschen | |
| unterscheidet, die wirklich arm sind, ist, dass sie dieses Gefühl | |
| romantisieren können, während andere unter ihm leiden. Das Wissen, dass es | |
| sich um einen vorübergehenden Zustand handelt, erlaubt es ihnen, ihn zu | |
| genießen. Armut ist dann etwas Neues, Aufregendes, Unbekanntes. [3][Scham, | |
| seine finanzielle Lage in die Welt zu tragen, gibt es in diesem Fall | |
| nicht.] | |
| „Seht her, ich bin einer von euch“, sagen sie. Ich kann mich nicht daran | |
| erinnern, jemals stolz darauf gewesen zu sein, dass mein Kontostand im | |
| zweistelligen Bereich lag. Denn die Zahl [4][repräsentierte meine | |
| Lebensrealität] und kein kathartisches Erlebnis. | |
| ## Ausdrücklicher Wunsch, arm zu sein | |
| Im Jahr 1965 thematisiert Bob Dylan in „Like a Rolling Stone“ den sozialen | |
| Abstieg einer Frau, die in Reichtum aufwächst und später auf der Straße | |
| lebt. Früher warf sie noch die Münzen in die Pappbecher, heute muss sie | |
| selbst betteln. „How does it feel?“ – „Wie fühlt es sich an?“, fragt… | |
| immer wieder. Diese Frau entkommt der Armut nicht mehr. | |
| Den ausdrücklichen Wunsch, arm zu sein, findet man 30 Jahre später bei Pulp | |
| in „Common People“. In dem Song geht es um eine Klassentouristin, deren | |
| reiche Eltern sie jederzeit aus dem Leben in Armut befreien könnten. Die | |
| Band postuliert aus der Perspektive des einfachen Volkes stolz: „You’ll | |
| never live like common people. / You’ll never do whatever common people | |
| do./ You’ll never fail like common people.“ | |
| Bei Kleidung lässt sich am deutlichsten beobachten, wie die Vermarktung | |
| Klassentourist*innen anziehen sollen: [5][Lars Eidinger mit seinen | |
| 550-Euro-Plastiktüten in blau-weißer Aldi-Nord-Optik] oder [6][Balenciaga] | |
| mit den neongelben Bauarbeiterjacken für 3.000 Euro. Außerdem verkaufte das | |
| Label Vetements Shirts mit dem DHL-Logo als High Fashion. Dass solche | |
| Klamotten nicht nur Mode geworden sind, sondern diese im | |
| Allerhöchstpreissektor von den Regalen geht, ist eine Perversion. | |
| ## Auch in der Partywelt findet es sich wieder | |
| Die Modeindustrie suggeriert den Käufer*innen, dass sie das Bild einer | |
| bodenständigen, schwer arbeitenden Person abgeben können. Und das, ohne je | |
| körperliche tätig gewesen oder den Problemen der Arbeitenden ausgesetzt zu | |
| sein. Dass die Ästhetik körperlicher, niedrigbezahlter Arbeit (Blue Collar | |
| Jobs) glorifiziert und verkauft wird, ist besonders dann schmerzhaft, wenn | |
| man sich vor Augen führt, wer davon profitiert. Die Labels stecken sich die | |
| Kohle in die Taschen und die Arbeiter*innen, die die Klamotten herstellen | |
| und ausliefern, gehen als Verlierer*innen aus. | |
| Urban Outfitters zum Beispiel beschrieb in einem Treffen mit Investoren | |
| seine Hauptkundschaft als „gehobene Obdachlose“. | |
| Doch solche Aneignungen finden sich nicht nur in der Mode, sondern auch in | |
| der Partywelt. Um 23.30 Uhr an einem Junitag ist das Bulbul in Kreuzberg | |
| noch recht leer. Ein Kollektiv namens Nachtboutique, das sich auf Telegram | |
| mit den Worten „raw working class energy“ (rohe Arbeiterklassenenergie) | |
| beschreibt, veranstaltet hier eine Party. Auf der kleinen Tanzfläche reden | |
| die meisten noch, statt zu tanzen. Die Musik wird von Platten gespielt. | |
| Dänische Touristinnen, die das Event auf der Ticketplattform Resident | |
| Advisor gefunden haben, nippen an 11-Euro-Cocktails, die sie billig finden. | |
| ## Unpolitisch, aber sich auf Arbeiterhintergrund beziehen? | |
| Bei der Namensgebung ließ sich das Kollektiv von einer Doku über [7][die | |
| Clubs der DDR] inspirieren, von denen manche Nachtboutiquen genannt wurden. | |
| Das sagt Mesud, einer der Organisatoren. In der Gruppenbeschreibung auf dem | |
| Telegram-Kanal steht, dass sie mit ihren Partys das Gefühl der | |
| Arbeiter*innen der DDR rüberbringen wollten. Dies schaffen sie durch | |
| die Off-Locations, faire Eintrittspreise, Inklusion und Schallplattenmusik, | |
| sagt Mesud. Außerdem kämen die Mitglieder des Kollektivs allesamt aus | |
| Arbeiter*innen-Familien und können somit die Authentizität der Erfahrung | |
| gewährleisten. | |
| Ich habe eine ähnliche Herkunft, von der ich mich mit einem Studium | |
| entfernt habe. Auch die Veranstalter haben, sowie die Handvoll Gäste, mit | |
| denen ich im Bulbul spreche, studiert. | |
| Auf die Frage, warum sie einen politisch aufgeladenen Namen mit einer | |
| politischen Beschreibung gewählt haben, antwortet Mesud, dass das Kollektiv | |
| eigentlich unpolitisch sei. „Das Politische ist invers geworden. Also, was | |
| früher politisch und Punk sein war, ist heute unpolitisch sein“, sagt er. | |
| Ist es möglich, sich ausdrücklich auf den Arbeiterhintergrund zu beziehen | |
| und sich gleichzeitig als unpolitisch zu bezeichnen? Nachtboutique hat | |
| nicht beabsichtigt, in Balenciaga-Manier mit dem Vokabular Kohle | |
| abzugreifen. „Aber ich bin mir sicher, dass das eine Rolle spielt, dass | |
| sich Leute davon angesprochen fühlen, die dieses Arbeiterding auch cool | |
| finden“, sagt Mesud. Und weiter: „Das ist eine Sache, die stattfindet. | |
| Darüber sollten wir uns mehr Bewusstsein schaffen.“ | |
| ## Berlin als Ort, um sich in der Menge zu tarnen | |
| Viele Clubs sagen in ihren Selbstbeschreibungen Ähnliches. So schreibt der | |
| Berliner Club Tresor auf seiner Seite, dass er lange „ein eher | |
| vorstädtisches Publikum aus der Arbeiterklasse“ anzogen habe. Wie diese | |
| Arbeiter*innen die Eintrittspreise von mittlerweile 22 Euro tragen | |
| sollen, wird nicht erwähnt. DJ Working Class legt dort auf. | |
| Berlin ist das ideale Habitat für die, die sich in der Menge zu tarnen | |
| wissen. An jeder Ecke könnte [8][der nächste Undercover-Reiche] lauern. | |
| Alle drehen ihre Kippen selbst. Alle trinken Billigsekt. Alle sind | |
| Teilzeit-DJs, aber woher kommt eigentlich die Kohle für die Anlagen und | |
| Pulte, die sie in ihren vermeintlich schäbigen Altbauwohnungen stehen | |
| haben? | |
| Das Leben in Berlin ist wie ein Auslandssemester, in dem der Traum in | |
| Erfüllung geht, sich auch mal als Opfer fühlen zu dürfen. Reich zu sein und | |
| seine Privilegien zuzugeben, ist uncool. Dennoch wäre es moralisch, offen | |
| darüber zu sprechen. Also, Rich Kids aller Länder, outet euch! Wir beißen | |
| nicht. Aber euer Bier könnt ihr selbst zahlen. | |
| 23 Aug 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.instagram.com/berlinauslandermemes/ | |
| [2] https://www.instagram.com/berlinclubmemes/?hl=de | |
| [3] /Forscher-ueber-Umgang-mit-Armut/!5937498 | |
| [4] /Geldnot-im-Studium/!5949736 | |
| [5] /Lars-Eidinger-und-Aldi/!5656127 | |
| [6] /The-soccer-scarf-invades-high-fashion/!5462104 | |
| [7] /!5865810/ | |
| [8] /Philosoph-ueber-Abschaffung-von-Erbe/!5936644 | |
| ## AUTOREN | |
| Valérie Catil | |
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