Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Autor über Klassenliteratur: „Die Revolution braucht ihre Geschi…
> Der Hamburger Autor Mesut Bayraktar beschäftigt sich in seinen
> Kurzgeschichten mit der Arbeiterklasse. Oldschool? Findet er nicht.
Bild: Auch HSV-Fans können mit dem Klassenbegriff etwas anfangen: Choreographi…
taz: Herr Bayraktar, die Figuren der Geschichten von „Die Lage“ sind sehr
unterschiedlich – aber durch ihr Dasein als Arbeiter:innen verbunden.
Warum dieser Fokus auf Klasse?
Mesut Bayraktar: Mir ist wichtig, mit diesem Buch zu zeigen, dass die
arbeitende Klasse nicht das ist, als was sie in den letzten Jahren in Szene
gesetzt wurde, nämlich eine rein männliche, drogenabhängige, homophobe
Horde. Die arbeitende Klasse steht auch für Würde, Kämpfe, Widersprüche und
Vielfalt. Zugleich zeichnet sie sich heute auch dadurch aus, dass sie an
der Unwissenheit über ihre eigene Lage leidet. Das kenne ich aus meinem
eigenen Leben. Diese Unwissenheit tut weh. Sie gehört ebenso zur Herrschaft
wie die Ausbeutung.
taz: Im Feuilleton ist neuerdings oft von einer „neuen Klassenliteratur“ zu
lesen. Gehören Sie dazu?
Bayraktar: Ich würde meine eigene Arbeit an den Peripherien dieser Strömung
einordnen. Sie bedeutet vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden
Klassenverhältnisse vor allem eine Suchbewegung von [1][schreibenden
Arbeiterkindern] und Intellektuellen hin zur [2][Arbeiterklasse]. Es ist
der Versuch, eine Sprache der Konfrontation zu entwickeln, die wieder zu
einer symbolischen Existenz der arbeitenden Klasse führen soll. Sprache
befasst sich wieder mit der Realität. Die Wirklichkeit bekommt wieder
Einlass in die Literatur, was meiner Ansicht nach in den 30 Jahren zuvor so
nicht der Fall war.
taz: Das heißt, Klasse hatte da keine Rolle mehr gespielt?
Bayraktar: Ich selbst bin 1990 geboren. Ich habe dieses Jahrzehnt und die
folgenden Jahre eher so erlebt, dass die arbeitende Klasse aus der
Literatur, der Kunst und den Wissenschaften verbannt wurde. Von heute auf
morgen hieß es, die arbeitende Klasse gebe es nicht mehr. Wir seien eine
Gesellschaft von Individuen, von Projekten der Selbstverwirklichung. Indem
man meine Klasse leugnete, hat man auch meine Erfahrungen und mein Leben
geleugnet. Ich habe aber an meinem eigenen Körper gesehen und erfahren,
dass es die Klasse gab.
taz: Wie kam es, dass nicht mehr von und über Klasse geschrieben wurde?
Bayraktar: Als der Realsozialismus und das Projekt eines sozialistischen
Aufbaus weggefallen sind, hatte der Kapitalismus freie Bahn. Er musste
seine eigene Existenz nicht mehr rechtfertigen. Die neoliberale
Restauration folgte. In der Literatur wurde die arbeitende Klasse quasi der
Vergangenheit eingepreist. [3][Klassenkampf] war nicht mehr en vogue. Damit
wurde aber auch die Geschichte einer proletarischen Gegenkultur kassiert
und unter die Erde verbannt.
taz: Und die neue Klassenliteratur gräbt sie nun wieder aus?
Bayraktar: Wir arbeiten mit einer fast archäologischen Präzision daran, die
Linien zurück in die Geschichte der eigenen Vorfahren und der Klasse
freizulegen. Um uns stark zu machen für die Kämpfe, die vor uns liegen,
womöglich für einen Kampf um eine klassenlose Gesellschaft.
taz: Wie kam es zum Comeback der Klassenliteratur?
Bayraktar: Die [4][Wirtschaftskrise 2008] war eine Zäsur. Es war ja nicht
nur eine wirtschaftliche Krise, sondern auch eine Hegemonie-Krise der
Bürgerlichen. Die bis dahin entwickelten Theorien, die Ungleichheit
innerhalb kapitalistischer Gesellschaften begründen sollten, das
Leistungsnarrativ oder das von der individuellen Schuld, langten nicht
mehr. Aber niemand akzeptiert unbegründete Ungleichheit.
taz: Was war die Konsequenz?
Bayraktar: Als diese Gründe wegfielen, hat man wieder zu [5][radikaleren
Theorien von Gesellschaft] gegriffen. Der Marxismus war wieder auf der
Tagesordnung. Seither findet aus unterschiedlichen Zungen eine
Wiederauferstehung des Marxismus statt. Diese Rückeroberung ist nötig, um
zu verstehen, warum die Verhältnisse sich so zuspitzen und wie sie
verändert werden können.
taz: Viele Autor:innen schreiben vom Aufwachsen und der Sozialisation
innerhalb der Arbeiter:innenklasse. Sie haben das auch
Arbeiterkinderliteratur genannt. Was meinen Sie damit?
Bayraktar: Viele dieser Stimmen rekonstruieren anhand ihrer Biografie ihre
Herkunftsgeschichte. Dabei lassen die schreibenden
Arbeiter:innenkinder durch das Schreiben ihre Klasse hinter sich.
Manche forcieren das. Dabei wird immer auch die Erzählung des sozialen
Aufstiegs durch Bildung bedient. Ich will aber etwas dagegenhalten.
taz: Und zwar?
Bayraktar: Ich denke, dass man nicht zwangsläufig im Schreiben über die
eigene Klasse seine Klasse zurücklassen muss. Ganz im Gegenteil. Ich
schreibe Geschichten aus meiner Klasse, um Literatur in ein Forum zur
Entwicklung des Klassenbewusstseins zu verwandeln, vielstimmig und
kritisch. Mit anderen Worten: Die Revolution braucht ihre Geschichten, vor
allem in einer vorrevolutionären Situation.
21 Nov 2024
## LINKS
[1] /Leben-einer-franzoesischen-Arbeiterin/!5996416
[2] /Arbeiterklasse/!t5283905
[3] /Klassenkampf/!t5021554
[4] /Schwerpunkt-Finanzkrise/!t5009668
[5] /Philosophin-ueber-radikale-Systemkritik/!6021416
## AUTOREN
Jonas Kähler
## TAGS
Hamburg
Literatur
Arbeiterklasse
Klassenkampf
Kurzgeschichte
Schlagloch
Mode
Intersektionalität
## ARTIKEL ZUM THEMA
Der Rechtsruck und die Arbeiterklasse: Reaktionäre Hinterwäldler?
In den populären Rechtsextremismus-Analysen steckt viel Verachtung für die
arbeitenden Klassen – und eine Verniedlichung des Faschismus.
Ästhetisierung der Arbeiterklasse: Der Traum vom Armsein
Sich als arm auszugeben, ist angesagt. Ohne Scham inszenieren diese
Klassentourist*innen ihre angebliche Armut und Klassenzugehörigkeit.
Professorin über Wokeness: „Raus aus den Kulturkämpfen!“
Die Professorin und Buchautorin Catherine Liu wendet sich von der Klasse
der linksliberalen Akademiker ab, um zum wahren Klassenkampf
zurückzufinden.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.