| # taz.de -- Professorin über Wokeness: „Raus aus den Kulturkämpfen!“ | |
| > Die Professorin und Buchautorin Catherine Liu wendet sich von der Klasse | |
| > der linksliberalen Akademiker ab, um zum wahren Klassenkampf | |
| > zurückzufinden. | |
| Bild: Fan von Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders 2016 in New York | |
| taz: Frau Liu, Sie sind Professorin an einer öffentlichen Eliteuni, warum | |
| schreiben [1][ausgerechnet Sie ein Buch], das mit der linksliberalen | |
| akademischen Schicht hart ins Gericht geht? | |
| Catherine Liu: Meine Beschäftigung mit dieser Klasse, meiner Klasse, | |
| begann, als ich merkte, dass sie alles andere als begeistert von Bernie | |
| Sanders waren. Jahrzehntelang dachte ich, dass wir alle Umverteilung, | |
| öffentliche Gesundheitsversorgung, die Aufspaltung von Monopolen und so | |
| weiter wollten, aber dann kommt der erste offen sozialistische | |
| Präsidentschaftskandidat daher – und die Menschen um mich herum waren viel | |
| mehr zu Hillary Clinton oder sogar Pete Buttigieg hingezogen. Als ich | |
| darüber nachdachte, merkte ich, dass es sich um eine klassische | |
| Basis-Überbau-Situation handelte: Akademiker denken fälschlicherweise, dass | |
| ihre Privilegien daher kommen, dass sie die klügsten und gebildetsten sind, | |
| darum wollen sie Politiker, die auch klug und gebildet sind. Tja, 2016 | |
| wählten die Amerikaner den dümmsten aller Kandidaten, es war eine Absage an | |
| die Werte dieser Klasse. | |
| Sie verwenden für die linksliberale Akademikerschicht den Begriff PMC, die | |
| [2][Professional Managerial Class]. In den USA gibt es seit ein paar Jahren | |
| heftige Debatten über diesen Begriff, Ihr Buch bringt diesen Terminus in | |
| den deutschen Sprachraum. Was bedeutet er? | |
| Die Soziologen Barbara und John Ehrenreich prägten den Begriff Ende der | |
| 70er, als sie sich damit auseinandersetzten, warum die 68er gescheitert | |
| waren. Ihnen fiel an der neuen Linken auf, dass sie stark akademisch | |
| geprägt war, Lehrer, Journalisten, Professoren, Ärzte, Anwälte, Berater. | |
| Diese Menschen sind zwar lohnabhängig, aber nicht wirklich Arbeiter. Sie | |
| verwalten den Kapitalismus. Ich habe auch viel von Siegfried Krakauer | |
| gelernt. Die Frage, warum es meiner Schicht so schwerfällt, materielle | |
| Probleme zu diskutieren und Solidarität mit anderen Lohnabhängigen | |
| aufzubauen, hat mich nicht losgelassen. | |
| Bei Krakauer fand ich die Einsicht, dass sie so sehr mit der | |
| Verwaltungslogik des Kapitalismus identifiziert sind, dass Solidarität | |
| nicht mehr möglich ist. In seiner meisterhaften Studie „Die Angestellten“ | |
| beschreibt er viele der Pathologien, die sich durch die widersprüchliche | |
| Klassenposition ergeben. Mal schlagen sie sich auf die Seite der | |
| Arbeiterklasse, aber wenn es hart auf hart kommt, dann stehen sie meistens | |
| mit dem Kapital. Mit der zunehmenden Komplexität des Kapitalismus wuchs | |
| auch die Schicht der Verwalter und wurde viel mächtiger, als sich die | |
| Ehrenreichs das je vorstellen konnten. Heute ist es gar nicht mehr denkbar, | |
| dass Politiker nicht studiert haben könnten. | |
| An der Spitze ist es noch schlimmer: Joe Biden ist der erste Präsident seit | |
| Reagan, der nicht in Harvard oder Yale war, sondern nur an einer | |
| mittelklassigen Uni. Damit gilt er schon als Arbeiterpräsident. Dabei haben | |
| 66 Prozent der Amerikaner gar keinen Uniabschluss. Vom Rest besucht der | |
| größte Teil eine staatliche oder kommunale Hochschule wie die, an der ich | |
| unterrichte. Absolventen der teuersten Unis machen nur etwa 3 Prozent der | |
| Bevölkerung aus, aber sie bestimmen alle Debatten, als würde es die anderen | |
| nicht geben. | |
| Wenn die PMC auch ihre Arbeit verkaufen muss, warum unterscheiden sich ihre | |
| Werte so sehr von der anderer Lohnabhängigen? | |
| Ich gebe Ihnen zwei Beispiele für die unterschiedlichen Arten der | |
| Sozialität. In einer Fabrik müssen alle Arbeiter für alle anderen Arbeiter | |
| Verantwortung übernehmen, weil am Fließband sonst jemand seine Hand | |
| verliert. Dazu will der Boss, dass alles schneller geht, du hingegen willst | |
| weniger arbeiten, eure Interessen sind also grundsätzlich verschieden. | |
| Selbst wenn du die anderen nicht magst, zwingt dich die Produktionsweise | |
| dazu, miteinanderzustehen, um eure Position zu verbessern. | |
| Im Gegensatz dazu gibt es E-Mail-Jobs. Für viele PMC spielt es gar keine | |
| Rolle, wie gut sie ihre Arbeit verrichten. Es geht nur darum, wie man sich | |
| präsentiert, nämlich als gut vernetzt, freundlich und hilfsbereit. Es geht | |
| also darum, der oberen Hierarchiestufe vorzuspielen, dass man gut ist. Es | |
| geht um Schein. Daraus fließt ihre Obsession mit Kultur und individuellem | |
| Verhalten, mit emotionaler Regulierung, individuellen Konsumentscheiden, | |
| Expertenwissen, mit Tugend. Man muss das Richtige sagen, um die Autorität | |
| zu befriedigen, nicht einander zu helfen. Es gibt keine liberale Sprache | |
| der Solidarität. | |
| Ein Konzept lehnen Sie besonders vehement ab: Intersektionalität. Dabei | |
| sind Sie doch selbst ziemlich intersektional: Eine Frau, Person of Color, | |
| Migrantin, Arbeiterkind. Was stört Sie so sehr an dieser Idee? | |
| Kimberlé Crenshaw, die den Begriff prägte, war Anwältin. Intersektionalität | |
| ist ein juristisches Konzept, kein politisches. Sie wollte zeigen, dass | |
| Schwarze Frauen, die ihre Jobs in einer Autofabrik verloren, nicht entweder | |
| als Frauen oder als Schwarze diskriminiert wurden, sondern als eigene | |
| Kategorie: Schwarze Frau. Es spricht Bände, dass sie vergaß, sie als | |
| Arbeiterinnen zu denken, die so was wie von Gewerkschaften erstrittene | |
| Arbeitsrechte hatten. Wenn, dann taucht in dieser Theorie Klasse nur als | |
| eine von mehreren Identitäten auf, die gleichberechtigt | |
| nebeneinanderstehen. Das finde ich völlig falsch. Klasse ist keine | |
| Identität, sondern unser Verhältnis zu den Produktionsmitteln. Klasse fußt | |
| auf Widerspruch, nicht auf Differenz. | |
| Klasse ist auch wichtiger als alle anderen Kategorien: Eine | |
| Afroamerikanerin aus der Arbeiterschicht ist einer asiatischen Frau aus der | |
| Arbeiterschicht näher als Oprah Winfrey. Das klingt banal, aber in den USA | |
| wird uns erzählt, man könne sich nur mit Menschen aus der gleichen | |
| ethnischen Gruppe identifizieren. Oder nehmen wir ein deutsches Beispiel: | |
| Karl Lagerfeld, möge er in Frieden ruhen, kam aus einer reichen | |
| aristokratischen Familie. Er begann sein Leben als reicher Mann und er | |
| starb noch viel reicher. Natürlich, er war schwul. Er mag dadurch viel Leid | |
| erfahren haben in seinen konservativen Kreisen. Aber niemand kann mir | |
| erzählen, dass sein Leben viel mit einem schwulen Mann, sagen wir, aus | |
| einer Hamburger Hafenarbeiterfamilie gemeinsam hat. | |
| Seit Ihr Buch erschienen ist, gibt es eine Linke, die sich gegen viele der | |
| von Ihnen benannten Themen richtet: Sprachfixierung, Moralisierung | |
| individuellen Verhaltens und so weiter. Das wird jedoch oft plump und geht | |
| kaum übers Ressentiment hinaus. Unterscheidet sich Ihre Kritik? | |
| Es ist ein schmaler Grat. Es geht nicht darum, etwas zu sagen, nur damit | |
| die andere Seite wütend wird. Ich glaube, viele Gegner von Wokeness sind in | |
| den letzten Jahren ein bisschen durchgedreht und wollen nur noch | |
| provozieren. Ich habe linke Freunde, die komplett von ihrem Hass auf | |
| Wokeness aufgefressen wurden. Sie sind wie Alice im Wunderland in einen | |
| Hasenbau gefallen und kommen da nicht wieder raus. Es wäre wichtiger, ganz | |
| aus den Kulturkämpfen auszusteigen und sich den materiellen Fragen und | |
| Kämpfen zuzuwenden. Aber das beste Argument zu haben, wird uns auch nicht | |
| helfen. Zu glauben, wir lebten in einem Debattierklub, ist klassisches | |
| Denken der PMC. Aber Politik geht um Macht, nicht ums Rechthaben. | |
| 6 Jul 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.lovelybooks.de/autor/Catherine-Liu/Die-Tugendp%C3%A4chter-71868… | |
| [2] https://www.dissentmagazine.org/online_articles/on-the-origins-of-the-profe… | |
| ## AUTOREN | |
| Caspar Shaller | |
| ## TAGS | |
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