# taz.de -- Der Rechtsruck und die Arbeiterklasse: Reaktionäre Hinterwäldler? | |
> In den populären Rechtsextremismus-Analysen steckt viel Verachtung für | |
> die arbeitenden Klassen – und eine Verniedlichung des Faschismus. | |
Bild: „Man hat Probleme, aber die interessieren niemanden mehr“: Protest ge… | |
Gelegentlich kommt es vor, dass Probleme, die lange verdrängt wurden, nicht | |
mehr ignoriert werden können. „Endlich“, denkt man sich dann. Und | |
allmählich schleicht sich dennoch ein Unwohlsein ein, das Gefühl, dass auch | |
das Richtige leider auf die falsche Weise erzählt wird. Das Gefühl, dass | |
das auch wieder nicht so stimmt. Auch wieder falsch ist, nur auf andere | |
Weise. | |
So ähnlich geht es mir seit einiger Zeit, wenn die Rede auf „die | |
Arbeiterklasse“ kommt. Die ist seit einigen Jahren wieder in aller Munde. | |
Jahrzehntelang hatte man die Verwundungserfahrungen der arbeitenden Klassen | |
ignoriert, deren Empfindung, nicht mehr als zentral wahrgenommen zu werden, | |
sondern als randständig. An Warnungen hat es nicht gefehlt. | |
Da stauen sich Kränkungen auf, materielle Bedrohungen und | |
Abstiegserfahrungen. Und andererseits ein emotionaler Groll durch das | |
Gefühl: Man hat Probleme, aber die interessieren niemanden mehr, weil ja | |
jetzt alle „neue Mitte“ sein wollen, die modernen urbanen | |
Aufsteigersegmente. | |
Wurde „man“ analysiert, fühlte sich das wie eine Beleidigung an, man wurde | |
„Modernisierungsverlierer“, „Abgehängte“, oder sonst etwas genannt und… | |
wurde über einen im Tonfall eines inneren Kolonialismus geredet. Die, die | |
nicht mehr mitkommen; die, die halt nicht beweglich und flexibel genug | |
sind, sich schnell genug aus ihren Welten davonzumachen. | |
## Das Image der Arbeiterklasse orientiert sich an Rentnern | |
Man hat, grob gesagt, zwei Jahrzehnte lang ignoriert, welch ein explosiver | |
Groll sich da zusammenbraute, bis es dann auch der letzte Ignorant begriff, | |
was spätestens mit dem Brexit-Votum und der Trump-Wahl der Fall war. | |
Plötzlich waren die „politisch Vergessenen“, die „White Working Class“… | |
einheimische Arbeiterklasse das große Thema. Autorinnen und Soziologen | |
schwärmten aus, sie zu ergründen wie eine fremde Ethnie. | |
Es ging sofort mit neuen Falschheiten einher. Arbeiterklasse, die wurde da | |
erst recht homogenisiert, der prototypische „Arbeiter“ ist in diesen | |
Analysen der hinterwäldlerische Redneck oder der Wutbürger. Aber die | |
„arbeitenden Klassen“ (besser, wir halten uns an den Plural), sind in | |
Wirklichkeit vielgestaltiger. Das beginnt schon bei der simplen Soziologie: | |
Es sind nicht alle Männer und nicht alle Beschäftigte im produzierenden | |
Gewerbe. | |
Arbeiterklasse, das sind ja alle, sagen wir es einmal ganz grob, die ihre | |
Arbeit nicht im Homeoffice erledigen können und bei denen es wirtschaftlich | |
knapp ist, das können vom Regalschichter über die Kassiererin, den | |
Lkw-Fahrer, die Montagearbeiterin am Fertigungsband alle möglichen | |
Menschen sein, vom Elektroinstallateur bis zu den Leuten, die die | |
Glasfaserkabel verlegen. | |
Hinzu kam: Im phantasmagorischen Bild, das hier häufig gezeichnet wird, ist | |
die „abgehängte Arbeiterklasse“ von weißen, älteren Männern repräsenti… | |
die allesamt konventionelle Werte aus den fünfziger Jahren haben. Das Image | |
des Arbeiters wird an Leuten modelliert, die meist Rentner sind. | |
## Schon Vance' Klassenanalyse in Hillbilly-Ellegie war wirr | |
Die arbeitenden Klassen bestehen aber heute nicht unwesentlich aus | |
Zwanzigjährigen, Dreißigjährigen, Vierzigjährigen und Fünfzigjährigen, die | |
ganz unterschiedliche Werte haben. Doch im populären Phantombild sind sie | |
alle rechts, kulturell konservativ, antiwoke, antifeministisch, homophob | |
usw. Alles ziemlich grob holzschnittartig. | |
Die Milieus sind weit heterogener. Manche sind reaktionär, manche | |
progressiv und manche teils-teils. Manche innerlich frustriert, viele auch | |
nicht. Die einen prekär, die anderen einigermaßen wohlsituiert. | |
Ein begrüßenswerter, ja sogar in gewissem Sinne „progressiver“, „linker… | |
Vorgang, nämlich das wachsende Augenmerk auf die Verwundungserfahrungen und | |
Krisen der arbeitenden Klassen, bekam eine rechte Schlagseite, indem man | |
die arbeitenden Klassen zum Bollwerk des Reaktionären stilisierte. [1][Man | |
las J. D. Vance’ Bestseller „Hillbilly-Elegie“ als eine Klassenanalyse,] | |
die die Augen öffnet, und wundert sich jetzt, dass der gleiche Vance zum | |
völlig wirrköpfigen Running Mate von Donald Trump wurde. Womöglich steckt | |
aber schon in der „Klassenanalyse“ Wirrköpfigkeit drin. | |
Paradox ist, dass man uns bis heute erklärt, dass es Klassen gar nicht mehr | |
gäbe, wenn man aber dann das Wählermilieu der Rechtsextremen analysiert, | |
dann kommt „die Arbeiterklasse“ wieder, aber sie kommt nur als „enttäusc… | |
Masse“, als „anonyme Unterschicht“ (Thomas Köck) vor. Die Arbeiterklasse… | |
mal existiert sie nicht, mal wird sie zum Monster stilisiert. | |
## Wer rechtsextrem wählt, ist Rechtsextremist | |
Halbwahrheiten werden zu Ganzfalschheiten. Im Grunde beruht die gesamte | |
„Grundphilosophie“ des „Bündnisses Sahra Wagenknecht“ auf diesen richt… | |
Falschheiten oder falschen Richtigkeiten. Neue Fragwürdigkeiten werden in | |
die Welt gesetzt. Es hat sich beispielsweise eingebürgert, dass die Wähler | |
und Wählerinnen rechtsextremer Parteien als verwundete Vergessene | |
beschrieben werden, die aufgrund ihrer Frustrationen und auch wegen ihrer | |
Tölpelhaftigkeiten Faschisten wählen, aber eigentlich nicht wissen, was sie | |
tun. So als wären sie nicht geschäftsfähig. | |
Daran ist schon einmal bemerkenswert, dass dieselben Leute, die die | |
Herablassung gegenüber den „einfachen Leuten“ berechtigterweise anprangern, | |
sie oft schon im nächsten Satz als einfältige Kleinkinder zeichnen, die | |
nicht checken, dass sie Faschos wählen. Mal soll man „Sorgen“ ernst nehmen, | |
aber die Handlungen der Menschen werden nicht ernst genommen. Mir scheint | |
ja, das ist die eigentliche Verachtung der Arbeiterklasse und zugleich eine | |
Verniedlichung des Faschismus. | |
Wer Leute wie [2][Björn Höcke] oder in Österreich Herbert Kickl wählt, wer | |
Leute wählt, die von [3][„wohltemperierten Grausamkeiten“] schwadronieren, | |
und wer bei jeder bösartigen verbalen Entgleisung und Gewaltrhetorik in | |
ekstatischen Jubel ausbricht, der will das, was er kriegt. Wer | |
Rechtsextremisten wählt, ist ein Rechtsextremist und in der Regel kein | |
besachwalteter Depp. | |
21 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Robert Misik | |
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