# taz.de -- Klimapolitik und Arbeiterklasse: „Das Klima schützen darf kein t… | |
> Arbeiter:innen wählen weltweit eher rechts statt grün. Karen Bell, | |
> Sozial- und Umweltgerechtigkeitsforscherin, erklärt warum, und was zu tun | |
> wäre. | |
Bild: Viele Arbeiter:innen drehen grüner Politik lieber den Rücken zu | |
taz: Frau Bell, bei der Bundestagswahl 2025 wählten 38 Prozent der | |
Arbeiter:innen in Deutschland die AfD und nur 5 Prozent die Grünen. | |
Woran liegt das? | |
Karen Bell: Wir sehen gerade in vielen Ländern dasselbe Phänomen. Menschen | |
aus der Arbeiterschicht fühlen sich von grüner Politik nicht angesprochen. | |
Und das liegt nicht daran, dass Arbeiter:innen die Umwelt egal wäre. Im | |
Gegenteil, zahlreiche Studien zeigen, dass sie es sind, die die | |
Auswirkungen von [1][Umweltverschmutzung] und der Klimakrise am stärksten | |
zu spüren bekommen. | |
taz: Was ist dann das Problem? | |
Bell: Grüne Politik wird dominiert von den Interessen der Ober- und | |
Mittelschicht. Die Lösungen, die grüne Parteien anbieten, sind oft Lösungen | |
für Menschen, die sich keine Sorgen um Geld machen müssen. | |
Bio-Lebensmittel, E-Autos, Wärmepumpen – das sind Luxusprodukte, deren Kauf | |
heute leider mit Klimaschutz gleichgesetzt wird. Wenn man aber Klimaschutz | |
zu einem teuren Lifestyle macht, den sich die Arbeiterschicht nicht leisten | |
kann, ist es für mich nicht überraschend, dass grüne Parteien sie nicht | |
überzeugen. | |
taz: Aber werden E-Autos und Wärmepumpen nicht trotzdem gebraucht, um die | |
Klimakrise zu bekämpfen? | |
Bell: Ich glaube, wir müssen erst einmal einen Schritt zurückgehen. Für | |
mich beginnt das Problem viel früher: bei der Perspektive. Lassen Sie mich | |
ein Beispiel geben. Vor rund zehn Jahren war ich bei einer Sitzung der | |
Grünen in Bristol, wo ich damals in einer Sozialsiedlung am Stadtrand | |
lebte. Dort gab es das Problem, dass viele Menschen ihre Gartenabfälle | |
einfach im Garten verbrannten, weil sie sich die Gebühren für die Abholung | |
des Mülls nicht leisten konnten. Den ganzen Frühling und Sommer brannten | |
kleine Feuerchen, in die die Menschen dann Plastik und anderen Müll warfen. | |
Deshalb wollte ich, dass wir in unserem Manifest fordern, die Abholung der | |
Gartenabfälle kostenlos zu machen. | |
taz: Wie haben die anderen Parteimitglieder der Grünen reagiert? | |
Bell: Sie meinten, dann müsste man die Bewohner:innen der | |
Sozialsiedlung halt aufklären und bilden. Ich habe ihnen entgegnet: Es geht | |
hier nicht um Bildung, die Leute wissen schon, dass das mit den Feuern | |
nicht optimal ist. Aber sie können sich die Abholung der Gartenabfälle | |
einfach nicht leisten. Dann haben sie gefragt, warum die Leute die | |
Gartenabfälle nicht einfach kompostieren. In den Gärten von | |
Mittelschichtsfamilien kann man so was vielleicht machen. Aber in einer | |
Arbeitersiedlung ist das anders. Da schauen die Leute auf dich herab, wenn | |
du in deinem Garten Müll verrotten lässt. Man riskiert, aus seiner Wohnung | |
geschmissen zu werden, wenn man seinen Garten nicht sauber hält. Und wenn | |
du jeden Tag darum kämpfst, dass dir im Leben Respekt entgegengebracht | |
wird, dann willst du das einfach nicht. Obwohl ich es war, die ihr ganzes | |
Leben in Arbeitersiedlungen gelebt hatte, haben mir die Parteimitglieder | |
einfach nicht zugehört. | |
taz: Das klingt nach einem extremen Fall. Glauben Sie wirklich, dass diese | |
Haltung in der Klimabewegung weit verbreitet ist? | |
Bell: Viele Arbeiter:innen, die ich für meine Forschung interviewt habe, | |
haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Sie werden kritisiert für das, was sie | |
essen, wohin sie in den Urlaub fahren, was sie anziehen – obwohl sie viel | |
weniger Möglichkeiten haben als Mittelschichtler. Wenn Politiker in Städten | |
Umweltabgaben erlassen oder pauschal die Benzinpreise anheben, dann trifft | |
das am härtesten die Arbeiter:innen, die in die Randbezirke gedrängt | |
wurden und schlechten Zugang zum öffentlichen Nahverkehr haben. Genau wie | |
etwa auch die Straßenblockaden von [2][Extinction Rebellion], die vor allem | |
Menschen aufgehalten haben, die nicht einfach im Homeoffice bleiben können. | |
Es fehlt jedes Verständnis dafür, dass Arbeiter:innen oft keine zweite | |
Chance bekommen, wenn sie zu spät bei der Arbeit sind. Oder schauen Sie | |
sich den Umgang der Regierung mit den Romani-Gemeinschaften im Süden | |
Spaniens an … | |
taz: … zu deren Umweltpraktiken Sie vor Ort in Almería gerade forschen. | |
Bell: Ich kenne die Gegend noch aus den 90ern. Da haben die Romani hier in | |
Höhlen am Meer gelebt. Das waren sehr ökologische Behausungen, im Sommer | |
waren sie kühl, im Winter warm. Für die Menschen hat das gut funktioniert. | |
Aber dann hat die Regierung die Höhlen gesprengt und sie in normierte | |
Legoland-Apartments neben einer Müllhalde umgesiedelt. Daraus spricht für | |
mich der pure Unwille, wirklich auf Menschen und ihre Bedürfnisse, ihre | |
Lebensweisen einzugehen. | |
taz: Wie könnte sich an dieser Haltung etwas ändern? | |
Bell: Der erste Schritt ist, anzuerkennen, was die Arbeiter:innen für | |
den Umweltschutz geleistet haben. Denn auch wenn grüne NGOs und grüne | |
Parteien heute vor allem von Mittelschichtlern angeführt werden, waren es | |
die Gewerkschaften und Arbeiter:innen, die sich über das ganze 20. | |
Jahrhundert hinweg gegen den Einsatz von gefährlichen Chemikalien am | |
Arbeitsplatz und die Verschmutzung der Umwelt durch sie eingesetzt haben. | |
Nur weil sie ihre eigenen Studien durchführten, um die schädlichen | |
Auswirkungen von Giftstoffen wie Arsen, Radium und Asbest nachzuweisen, | |
konnten sie Politik und Unternehmen dazu zwingen, endlich zu handeln. | |
taz: Wie lässt sich dieser Respekt in ganz konkretes Handeln übersetzen? | |
Bell: Wenn ich mit Politiker:innen aus der Ober- und Mittelschicht | |
spreche, dann sage ich immer: Stell dir den stressigsten Tag vor, den du je | |
erlebt hast. Wirklich alles, was schief laufen kann, läuft schief. Für | |
Menschen, die hart für ihr Überleben arbeiten, die in Armut leben, ist | |
jeder Tag genau so. Und wenn du dein Programm auflegst, dann frag dich: Wie | |
würden unsere Vorschläge für jemanden funktionieren, der jeden Tag mit | |
diesem Stress lebt? | |
taz: Gerade Grünenwähler:innen wird Heuchelei vorgeworfen, weil sie | |
einerseits Klimaschutz fordern und andererseits oft einen großen | |
CO2-Fußabdruck haben. | |
Bell: An dem Vorwurf ist etwas Wahres dran und trotzdem hilft es uns nicht | |
weiter, mit dem Finger auf Individuen zu zeigen. Ich spreche | |
Grünenwähler:innen nicht ab, dass sie gute Absichten haben. Aber um | |
Mehrheiten für den Klimaschutz zu gewinnen, müssen sie mit ihrer Politik | |
klarer bei den wirklich Verantwortlichen ansetzen. | |
taz: Und die wären? | |
Bell: Die Superreichen, die Ölkonzerne und das Militär. Die | |
Rüstungsindustrie und das Militär des Vereinigten Königreichs stoßen zum | |
Beispiel mehr CO2 aus als 60 andere Länder zusammen. Hinzu kommen die | |
Desinformationskampagnen der Ölindustrie und der enorme Ressourcenverbrauch | |
der Superreichen. Wenn wir die Emissionen dieser Akteure in den Griff | |
bekommen würden, müssten wir nicht ständig darüber diskutieren, ob man noch | |
mit dem Flugzeug in den Mallorca-Urlaub fliegen darf. Klima- und | |
Umweltdebatten als individuelle Schulddebatten zu führen, hilft uns nicht | |
weiter. | |
taz: Wie sähe eine Klimapolitik der Arbeiterklasse denn nun aus? | |
Bell: Klimalösungen für die Arbeiterklasse setzen kein riesiges Reservoir | |
an finanziellen, zeitlichen oder mentalen Ressourcen voraus. Sie | |
erleichtern den Alltag, nehmen einem Arbeit ab. Zum Beispiel könnten wir | |
einen komplett kostenlosen öffentlichen Nahverkehr haben. Glasgow geht da | |
gerade mit einem Programm für kostenlose Busse voran. Ein weiterer Punkt | |
sind aus meiner Sicht großflächige Hausdämmungsprogramme, die | |
Mieter:innen zugute kommen. Gleichzeitig würden sie wiederum viele Jobs | |
für Arbeiter:innen schaffen. Und ohne deutlich höhere Steuern für | |
reiche Menschen geht es auch nicht. | |
taz: Warum? | |
Bell: Weil wir eine Klimapolitik brauchen, die auch auf mehr Gleichheit | |
zielt. Ungleichheit führt zu Statusunsicherheit, führt zu dem Gefühl, nicht | |
gut genug zu sein und sich beweisen zu müssen. Viele versuchen diesen | |
Mangel an Status dann mit Konsum auszugleichen. | |
taz: Und was, meinen Sie, würde dagegen helfen? | |
Bell: All die kleinen Dinge im Leben, die uns Verbundenheit und Sinn spüren | |
lassen. Zeit mit unseren Kindern und Freunden. Musik. Tanzen. Lebhafte | |
Gemeinschaften. Und die Infrastruktur, die so ein Leben möglich macht. | |
Schöne Gemeindezentren, Sharing-Bibliotheken, einladende Parks – für mich | |
sind das die Elemente einer positiven Zukunft, die die Grünen aufbauen | |
sollten. | |
taz: In Deutschland hat sich Fridays for Future in den vergangenen Jahren | |
an einem Bündnis mit den Gewerkschaften versucht. Das Motto: [3][Wir fahren | |
zusammen]. Ist das in Ihrem Sinne? | |
Bell: Ja, das sind die Bündnisse, die wir brauchen. Wichtig ist nur, dass | |
sie auf Augenhöhe stattfinden. Dass auch Arbeiter:innen führen. Denn | |
oft übernehmen dann wieder direkt die Mittelschichtler. Ein Negativbeispiel | |
aus unserer Sozialsiedlung: Wir haben einmal eine Demo für eine Grünfläche | |
organisiert. Und dann, genau als die Medien Fotos machten, kam plötzlich | |
eine Mittelschicht-Organisation dazu und rollte ganz vorne ihr Transparent | |
aus, um es so aussehen zu lassen, als wären wir alle Teil ihrer Gruppe. | |
Vorher haben die sich noch nie bei uns blicken lassen. | |
taz: Im Bundestagswahlkampf haben die Grünen sich den Konservativen | |
angebiedert. [4][Jetzt sind sie wieder in der Opposition]. Was würden Sie | |
ihnen für eine mehrheitsfähige Klimapolitik raten? | |
Bell: Die Strategie, grüne Politik mit der Oberschicht zu machen, ist | |
spätestens seit der Wiederwahl Donald Trumps endgültig gescheitert. Wenn | |
progressive Parteien die Interessen der Arbeiterschicht nicht mit in ihr | |
Programm nehmen, dann sammeln die Rechtspopulisten diese Stimmen ein. Mein | |
Rat an die Grünen wäre also: Entwickelt endlich eine grüne Agenda, die für | |
die Mehrheit der Menschen funktioniert. | |
16 Mar 2025 | |
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