# taz.de -- Buch über deutsche Working Class: Nur noch ein individueller Kampf | |
> Die Autorin Julia Friedrichs hat für ihr Buch die neue Working Class | |
> untersucht – und fragt, wer die Kosten der aktuellen Krise tragen wird. | |
Bild: Musikunterricht in Zeiten von Corona: Lernen am Bildschirm | |
Von der eigenen Arbeit leben zu können, das ist ein bescheidener Wunsch. | |
Für die neue deutsche Working Class ist es oft genug ein unerfüllbarer | |
Wunsch. Autorin Julia Friedrichs widmet sich in ihrem Buch „Working Class“ | |
der Frage, wie es dazu kommen konnte. | |
Friedrichs gelingt es, ein mit Zahlen und Fakten gesättigtes Buch | |
verständlich zu gestalten, indem sie reportagehafte Passagen, Interviews | |
und Analysen verknüpft. Die Methode bedient sich der Filmtechnik: Sie | |
springt vom Zoom auf Protagonisten wie Musiklehrerin Alexandra zur Totale, | |
der Auswertung von Studien und Interviews. | |
Die von Friedrichs vorgetragene Analyse ist seit Jahren bekannt: Das | |
Vermögen der oberen 5 Prozent wächst, während die Einkommen der unteren 50 | |
Prozent stagnieren. Das untere Drittel der Gesellschaft besitzt praktisch | |
keine Ersparnisse. Normarbeitsverhältnisse wurden zugunsten von | |
Soloselbstständigkeit und Leiharbeit zurückgebaut. Das | |
Aufstiegsversprechen bröckelt. | |
Julia Friedrichs Buch ist trotzdem ein wichtiger Beitrag zur Debatte, denn | |
es zeigt, warum politisch daraus keine Konsequenz folgt: Ihre Protagonisten | |
Sait, Christian oder Alexandra können sich nicht als Klasse begreifen. | |
## Working Class – Ich AG | |
Die neue Working Class ist so heterogen, dass jeder Kampf ein individueller | |
ist. Eine Ich-AG im Kampf gegen den globalen Kapitalismus. Die Working | |
Class besteht gerade nicht mehr nur aus Arbeitern, die am Band „malochen“. | |
Sie sind schlichtweg jene Menschen, die ihr Geld mit Arbeit verdienen – | |
nicht mit Kapitalrenditen. Friedrichs Protagonisten sind deswegen so | |
unterschiedlich: Sait ist eine Putzkraft der Berliner Verkehrsbetriebe, ein | |
„ungelernter“ Arbeiter. Alexandra und Richard sind studierte Musiker, die | |
ihren Lebensunterhalt mit Musikunterricht bestreiten. | |
In der Coronakrise steigt der Druck auf die Working Class weiter. | |
Kurzarbeit für die einen, Mehrarbeit für die anderen. Alexandra nimmt einen | |
Zusatzjob in der Altenpflege an. Aber was, wenn sie krank wird? | |
## Wird das Kapital verschont? | |
Friedrichs nimmt jedoch nicht nur die individuellen Folgen der Krise in den | |
Blick. Sie fragt auch, wer die Kosten begleichen wird. Werden die | |
Krisenkosten – wie nach der Wiedervereinigung – in die Bereiche der | |
Arbeitslosen- und Rentenversicherung und Konsumsteuern verschoben? Werden | |
die Vermieter (teilweise große Immobilienkonzerne), die durch Staatsgeld | |
für kleine und große Unternehmen gestützt wurden, ihren Beitrag zur | |
Krisenbewältigung zahlen? Wird das Kapital mal wieder verschont? | |
Aufschlussreich ist Friedrichs Interview mit Staatssekretär Wolfgang | |
Schmidt, dem unsichtbaren Mann hinter Olaf Scholz. In der Analyse stimmen | |
Friedrichs und Schmidt überein. Was muss politisch daraus folgen? Für | |
Schmidt eine Politik der kleinen Schritte. Eine Vermögensabgabe? | |
Fehlanzeige. Ist das Realpolitik oder Mutlosigkeit? Es ist vor allem | |
deprimierend. | |
17 Mar 2021 | |
## AUTOREN | |
Marlen Hobrack | |
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