| # taz.de -- Ostdeutsche Familiengespräche: Born in the GDR | |
| > Für ihr Buch „Die anderen Leben“ haben die Autorinnen ostdeutsche | |
| > Familiengespräche aufgezeichnet. Es geht um Erfahrungen und Brüche im | |
| > Leben. | |
| Bild: „An die DNA Ostdeutschlands herangehen“: DDR-Museumswohnung in Magdeb… | |
| Dreißig Jahre ist das nun her, das historische Ereignis namens | |
| Wiedervereinigung, das bei genauerem Hinsehen eher in eine Richtung | |
| verlief: Die Ostdeutschen haben sich den westdeutschen Standards angepasst. | |
| Sie haben gesucht und getastet, haben gute und falsche Entscheidungen | |
| getroffen. Sehr oft waren sie nicht in der Position, überhaupt welche | |
| treffen zu können – es gab da dieses neue, alte Land, das seine eigenen | |
| Regeln hatte. | |
| Wer mitmachen wollte, hielt sich besser an die Gepflogenheiten. Wer meinte, | |
| es auf seine und ihre Weise versuchen zu wollen, wurde sehr wahrscheinlich | |
| zum Wendeverlierer. Was für ein Wort. | |
| Ein anderes Wort, das dieser Tage gern im Munde geführt wird, lautet | |
| Umbrüche. Es versucht zu fassen, was sich konkret vollzogen hat in den | |
| Leben jener, die Born in the GDR sind. Im politischen Raum wird ja gern | |
| Respekt eingefordert für diese Umbrüche. Aber was meint das eigentlich? | |
| ## Ablagerungen in den Erinnerungsschächten | |
| Die beiden Regisseurinnen Dörte Grimm und Sabine Michel dringen mit ihren | |
| „Generationengesprächen Ost“ weit vor in die familiären Weißräume. Denn | |
| dort, in den Erinnerungsschächten, ist ja alles abgelagert. In ihrem | |
| Sammelband „Die anderen Leben“ sprechen DDR-sozialisierte Eltern und ihre | |
| Kinder miteinander über diese Erfahrungen. | |
| Tatsächlich wird über diese Jahre vor und nach der Wende (noch so ein Wort) | |
| wenig geredet in den Familien. Die ostsozialisierten Kinder meinen, es habe | |
| doch alles einigermaßen geklappt. Keiner ist zu Schaden gekommen, alle | |
| haben ihren Platz gefunden. Viele Eltern beschweigen lieber ihre | |
| Erfahrungen. Zum einen, weil sie es satt haben, sich für ihre Ideen, ihre | |
| Irrtümer und Hoffnungen vor 1989 zu rechtfertigen. Zum anderen, weil sie ab | |
| 1990 die Erfahrung gemacht haben, dass Ostler zu sein Zweitklassigkeit | |
| bedeutet. Wozu bereden, was nicht gewertschätzt wird? Und warum an alte | |
| Wunden rühren? | |
| Im alljährlich von der Bundesregierung herausgegebenen [1][Jahresbericht | |
| zum Stand der deutschen Einheit] haben 2019 die Hälfte der befragten | |
| Ostdeutschen angegeben, sich als Deutsche zweiter Klasse zu fühlen. | |
| Das mag teilweise stimmen. Denn außer bei den sanierten Innenstädten hinkt | |
| der Osten in fast allen Kategorien hinterher. Ob beim Mindestlohn, bei den | |
| Konzernansiedlungen, den kommunalen Steuern oder in der Bildung – die | |
| Ostler sind zuverlässig hinten. Diese Zweitklassigkeit ist auch die Folie, | |
| auf der eine rechte Partei wie die AfD ihre Wahlerfolge produziert. Denn | |
| wer sich zweitklassig fühlt, muss nur noch bei seinen | |
| Minderwertigkeitsgefühlen abgeholt werden. | |
| Michel und Grimm wollen es nicht dabei belassen. Für „Die anderen Leben“ | |
| gehen sie ans Eingemachte. Ob Anja und ihre Mutter Ingrid aus Dresden, ob | |
| die beiden Prignitzer Gerd und Michael oder die kurz vor dem Mauerfall | |
| geborene Sandra und ihre Mutter Annegret – das Miteinanderreden müssen alle | |
| erst probieren, damit es besser werden kann. | |
| ## „Das wusste ich ja gar nicht.“ | |
| Umso erstaunlicher, was Eltern und ihre Kinder einander zum ersten Mal | |
| erzählen. Mehrfach fällt der Satz: „Das wusste ich ja gar nicht.“ Es geht | |
| um die genossenschaftlich organisierte Arbeit in der Landwirtschaft, um | |
| Frauen, die ihre Kinder sehr selbstverständlich allein großgezogen haben, | |
| um robuste Familienkonstrukte. Es geht um Misstrauen und Vertrauen in der | |
| Familie, aber auch um die kleine Freiheit ganz innen. Um berufliche und | |
| familiäre Brüche, sowohl vor als auch nach dem Mauerfall. | |
| Sabine Michel und Dörte Grimm schreiben in ihrem Vorwort: „Wir brauchen | |
| generationenübergreifende, ehrliche Gespräche, die an die DNA | |
| Ostdeutschlands herangehen, in deren Diversität sich jede und jeder | |
| wiederfinden kann und die mit Schlagwörtern wie Stasi, Unrechtsstaat, Täter | |
| und Opfer nicht zu fassen sind.“ | |
| Beide wissen, wovon sie schreiben. Michel, Jahrgang 1971, hat 2018 mit | |
| ihrem viel beachteten Film [2][„Montags in Dresden“] eindrucksvoll gezeigt, | |
| woher die fremdenfeindliche und hart rechte Pegida-Bewegung kommt. Was ihre | |
| Protagonisten unter anderem antreibt, ist das Ungehörtsein, das | |
| Nichterzählte also. | |
| Dörte Grimm, geboren 1978 in Brandenburg, gehört der Generation der | |
| Wendekinder an. In ihrer Kindheit hat sie erlebt, wie ihre Mutter im | |
| Textilkombinat Wittstock erst hunderte KollegInnen entlassen musste, um am | |
| Ende selbst arbeitslos zu sein. Bis 2018 war Grimm im Vorstand von | |
| „Perspektive hoch drei“, einem Verbund jüngerer Ostdeutscher, die sich mit | |
| Identitätsfragen befasst. „Die anderen Leben“ wollen die beiden Autorinnen | |
| als Ermutigung zum Reden verstanden wissen. Als Anfang von etwas. | |
| 21 Aug 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Anja Maier | |
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