# taz.de -- Buch zum bedingungslosen Grundeinkommen: Entschleunigung wäre mög… | |
> Die Coronakrise hat die Diskussion über ein bedingungsloses | |
> Grundeinkommen befeuert. Das Buch von Adrienne Goehler liefert Argumente. | |
Bild: Strukturwandel als Chance? Boxberg in der Lausitz könnte als Modell für… | |
Ein bemerkenswertes, wenngleich wenig beachtetes Ergebnis ist im unlängst | |
veröffentlichten [1][Bericht über das Experiment mit dem Grundeinkommen in | |
Finnland] enthalten. Die Teilnehmer*innen, die 2017/18 in den Genuss der | |
Sozialleistung kamen, arbeiteten in dieser Zeit etwas mehr als vorher. Und | |
die Zahl ihrer Arbeitstage überstieg die der Erwerbslosen außerhalb des | |
Experiments. | |
So hat das Grundeinkommen wohl beigetragen, die Motivation zu erhöhen, sich | |
zusätzliche Tätigkeiten zu suchen. Die mindestens ebenso wichtige Botschaft | |
liegt aber darin, dass die Bezieher*innen des Grundeinkommens nicht weniger | |
gearbeitet haben als zuvor. Offenbar wirkten die 560 Euro, die ihnen | |
monatlich ohne Bedingungen aufs Konto überwiesen wurden, nicht als Anreiz, | |
die Hände in den Schoß zu legen. | |
Dieses Ergebnis widerspricht der oft geäußerten Befürchtung, der Bezug | |
eines Grundeinkommens mache faul und verführe die Empfänger*innen, es sich | |
auf Kosten der Gesellschaft in der sozialen Hängematte bequem zu machen. | |
[2][Hartmut Rosa], Soziologe an der Universität Jena, findet diese | |
Erkenntnis nicht erstaunlich. Im neuen Buch von Adrienne Goehler sagt er, | |
das Grundeinkommen könne Menschen die Angst vor dem sozialen Absturz und | |
dem Versagen in der Leistungsgesellschaft nehmen. „Es schafft eine | |
existenzielle Sicherheit für die gesamte Gesellschaft“, so Rosa. | |
Diese Sicherheit „pazifiziert die Existenz, sie befriedet unser | |
In-der-Welt-Sein, sodass es überhaupt wieder möglich ist, in Resonanz zu | |
kommen – mit uns selbst, mit der Welt, mit der Natur.“ Und ein Effekt | |
positiver Beziehungen kann eben auch sein, Tätigsein als bereichernd zu | |
empfinden und eher mehr als weniger arbeiten zu wollen. | |
## Das große Hamsterrad | |
Hunderttausende Unterzeichner*innen diverser aktueller Petitionen zur | |
Einführung des Grundeinkommens in Deutschland dürften diese Gedankengänge | |
ebenfalls nicht überraschen. Wegen der Coronakrise drehte sich das große | |
Hamsterrad für einige Wochen weniger schnell. Viele Leute genossen die Ruhe | |
auf den Straßen, den nachlassenden Termindruck, die abendliche Muße ohne | |
Ausgehzwang, den neuen Raum für Gedanken und Gefühle, die Entschleunigung. | |
Sie freuten sich an der klaren Luft in den Städten und der Rückkehr der | |
Delfine in den Bosporus. | |
Und doch rotierte das Hamsterrad auch weiter. Denn plötzlich traten | |
Existenzsorgen in den Vordergrund, die jahrelang keine Rolle gespielt | |
hatten. Wie soll ich mich als Sängerin ernähren, wenn alle Konzerte | |
abgesagt werden und ich nicht auftreten kann? Wenn mein Restaurant | |
monatelang geschlossen bleibt, muss ich Insolvenz anmelden. Hält die Firma, | |
in der ich arbeite, die Krise durch oder wird sie bald meinen Job | |
streichen? | |
Corona führte zu beidem – Entschleunigung und Existenzangst. Möglicherweise | |
liegt in dieser Gleichzeitigkeit die Ursache für die neue Aktualität des | |
Grundeinkommens. Erhielten alle Bürger*innen beispielsweise 1.000 Euro | |
monatlich als bedingungslose Transferleistung vom Staat, könnten die einen | |
etwas Tempo aus ihrem stressigen Alltag rausnehmen, die anderen müssten | |
nicht befürchten, in die Hartz-IV-Mühle zu geraten. | |
In diese Situation hinein ist jetzt das neue Buch von Adrienne Goehler | |
erschienen. Es trägt den programmatischen, thesenhaften und komplizierten | |
Titel „Nachhaltigkeit braucht Entschleunigung braucht Grundein/auskommen | |
ermöglicht Entschleunigung ermöglicht Nachhaltigkeit“. | |
## Mit Nachhaltigkeit verknüpfen | |
Goehler, Jahrgang 1955, war Gründungsmitglied der Grünen, in den 1990ern | |
Präsidentin der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg, Anfang der | |
2000er kurz grüne Kultursenatorin von Berlin, später Aufsichtsrätin der | |
taz. Zusammen mit Götz Werner, dem ehemaligen Chef der Drogeriekette dm, | |
veröffentlichte sie bereits 2010 ein Buch zum Grundeinkommen. Der aktuelle | |
Band bietet nun eine Sammlung zahlreicher Texte, Essays und Interviews | |
unter anderem mit Künstler*innen, Ökonom*innen, Politik*innen und | |
Wissenschaftler*innen, entstanden während Goehlers zweijähriger Mitarbeit | |
am Institut für Nachhaltigkeitsstudien (IASS) in Potsdam. | |
Ihr zentrales Anliegen besteht darin, zwei Debatten, die bisher oft | |
getrennt voneinander ablaufen, miteinander zu verknüpfen – die öffentlichen | |
Diskussionen über Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit. Goehler | |
schreibt, zugespitzt: kein Klimaschutz ohne sozialen Ausgleich. Erst wenn | |
sich die Bürger*innen sozial und ökonomisch abgesichert fühlten, seien sie | |
bereit und willens, an einer ökologischen Transformation mitzuwirken, die | |
zu Beschränkungen von bisher bekanntem Wohlstand und Konsum führen könne. | |
Hier kommt das Grundeinkommen als eine Möglichkeit ins Spiel, allen | |
Menschen – im Idealfall nicht nur in reichen, sondern auch armen Ländern – | |
eine Existenzgrundlage zu bieten und gleichzeitig Wachstumsdruck aus der | |
Hochleistungsgesellschaft herausnehmen. | |
Denn erhielten alle Bürger*innen ein garantiertes „Grundauskommen“ auf | |
Basis eines sozialen Menschenrechts, könnte das den Zwang vermindern, | |
ständig neue Arbeitsplätze als Ersatz für wegrationalisierte Stellen aus | |
dem Boden stampfen, Produktion und umweltschädlichen Ressourceneinsatz | |
permanent erhöhen zu müssen. | |
## Die Praxistauglichkeit | |
In mehreren Interviews entwickeln Goehlers Gesprächspartner*innen den | |
Vorschlag, die Praxistauglichkeit des Modells in einem großen Experiment in | |
der brandenburgisch-sächsischen Lausitz auszuprobieren. Gut eine Million | |
Menschen würden dort mit einem bedingungslosen Grundeinkommen ausgestattet, | |
um den geplanten Ausstieg aus der Braunkohle-Ökonomie zu begleiten. | |
Wären die politischen Mehrheiten in Land und Bund bereit, ein solches | |
gesellschaftliches Labor zu ermöglichen, hätte dies durchaus Sinn. Zum | |
einen lässt sich die Vergleichbarkeit herstellen, wenn in den anderen | |
Kohleregionen – Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen – der | |
Strukturwandel nach konventionellen Maßstäben abläuft. | |
Außerdem könnte man unter realen Bedingungen Antworten auf Fragen finden, | |
über die bisher immer nur theoretisch gestritten wird. Zum Beispiel: Wie | |
reguliert man den Zuzug von Leuten aus anderen Regionen in das attraktive | |
Sozialmodell? | |
Wie viele zusätzliche Kosten verursacht die Veranstaltung über die schon | |
heute für den Sozialstaat nötigen Finanzen hinaus? Verabschieden sich | |
Zehntausende Beschäftigte in den vorzeitigen Ruhestand, weil sie nicht mehr | |
jeden Ausbeuterjob annehmen müssen? | |
Ist die Bevölkerung liberal genug, das zu akzeptieren? Kann eine | |
entschleunigte, wachstumsarme Gesellschaft den Wohlstand produzieren, der | |
nötig ist, um das bedingungslose Grundeinkommen für alle zu finanzieren? | |
Weniger als 40 Jahre sollte man wahrscheinlich nicht veranschlagen, um in | |
einem solchen Experiment belastbare Aussagen zu erhalten. | |
26 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Grundeinkommen-in-Finnland/!5683477/ | |
[2] /Soziologe-Hartmut-Rosa-ueber-Corona/!5673868&s=hartmut+rosa/ | |
## AUTOREN | |
Hannes Koch | |
## TAGS | |
Grundeinkommen | |
Klima | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Unternehmen | |
Literatur | |
Pandemie | |
Literatur | |
Bedingungsloses Grundeinkommen | |
Buch | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Bedingungsloses Grundeinkommen | |
Finnland | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schlagloch | |
Grundeinkommen | |
Bedingungsloses Grundeinkommen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Götz Werner gestorben: Eine Flatrate für die Freiheit | |
Götz Werner war einer der reichsten Männer Deutschlands und Anwalt für das | |
bedingungslose Grundeinkommen. Er baute auf die Initiative der Mitarbeiter. | |
Essay „Was wir haben“ von Eula Biss: Schwindsucht als Lebensform | |
Was macht Besitz mit uns? Die US-Autorin Eula Biss beleuchtet in ihrem | |
Essay „Was wir haben“ humorvoll ihren eigenen Klassenstandpunkt. | |
Soziologe Hartmut Rosa im Gespräch: „Die Umwege fehlen jetzt“ | |
Corona hat das Hamsterrad des Lebens gebremst, trotzdem sind wir rastloser. | |
Soziologe Hartmut Rosa sagt, warum die Krise die Jungen besonders trifft. | |
Buch über deutsche Working Class: Nur noch ein individueller Kampf | |
Die Autorin Julia Friedrichs hat für ihr Buch die neue Working Class | |
untersucht – und fragt, wer die Kosten der aktuellen Krise tragen wird. | |
Initiative möchte Volksbegehren: Geld für alle für nix | |
Eine Initiative will eine Grundeinkommens-Studie in Bremen mit 700 | |
Teilnehmenden durchsetzen. Momentan sammelt sie Unterschriften. | |
Neues Buch von Gustav Horn: Wirtschaft gegen rechts | |
Der Ökonom Gustav Horn will einem gefühlten Kontrollverlust „gegensteuern�… | |
So auch der Titel seines neuen Buches. | |
Diskussion über Kunst in Coronakrise: Lieber Maler, male mir! | |
Die Bundestagsfraktion der Grünen lud zu einer Diskussion über „Kunst in | |
der Coronakrise“. Gestritten wurde im Internet. | |
Bezieherin eines Grundeinkommens: Das große Los | |
Thaïs Bendixen bezieht seit einem knappen Jahr bedingungsloses | |
Grundeinkommen. An ihrem Alltag hat das eigentlich wenig geändert. | |
Debütalbum von Popmusikerin Alma: Einfach nicht zu überhören | |
Die finnische Künstlerin Alma wirbelt den Mainstream mit ihrem Debütalbum | |
„Have U Seen Her“ durcheinander. Popsensibilität trifft auf Punkattitüde. | |
Die steile These: Es gibt nichts nachzuholen! | |
Die Wirtschaft hofft, dass der Konsumausfall bald wieder wettgemacht wird. | |
„Nachholen“ ist aber nur abstrakt möglich. Zeit aufholen kann man nicht. | |
Ökologisch-soziale Erneuerung: Bereit für das Nach-Corona | |
Noch geht Politik im Modus von Notmaßnahmen. Die Linke sollte eine Debatte | |
über echte Veränderungen anstoßen. | |
Grundeinkommen in Finnland: Gesünder, aber ohne Job | |
Zwei Jahre mit Grundeinkommen machen die BezieherInnen glücklicher. Die | |
geringe Zahl an TeilnehmerInnen lässt aber Fragen offen. | |
Aktivist über Grundeinkommen: „Es würde die Angst nehmen“ | |
Jomi Wagner engagiert sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen in | |
Schleswig-Holstein. Er glaubt, davon könne die Gesellschaft profitieren. |