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# taz.de -- Die steile These: Es gibt nichts nachzuholen!
> Die Wirtschaft hofft, dass der Konsumausfall bald wieder wettgemacht
> wird. „Nachholen“ ist aber nur abstrakt möglich. Zeit aufholen kann man
> nicht.
Bild: Es wird suggeriert, dass die Menschen genau das begehren, was Hohmeister …
Der Lufthansa-Vorstand Harry Hohmeister sagte im Hinblick auf die
Pandemie-Lockerungen Anfang Mai verheißungsvolle Sätze, die Verzweiflung
ausdrückten, Panik sogar: „Wir spüren eine große Lust und Sehnsucht der
Menschen, [1][wieder zu reisen]“, sagte er.
Und: „Wir ermöglichen jetzt mit aller gebotenen Vorsicht, dass Menschen
nachholen und erleben, worauf sie lange verzichten mussten.“ Damit das
genau so passiert, soll die derzeit aktive Flotte von 80 Flugzeugen
verdoppelt werden. Hohmeister wurde mit diesen Sätzen mehrfach in den
Medien zitiert.
Und?
Was daran panisch ist, fragen Sie?
Vielleicht liegt es auch einfach an der Panik in mir. Denn wenn
Entscheidungen plötzlich von dem abhängen, was Manager bei den Menschen,
also auch bei mir, spüren und von dem sie glauben, dass ich mich danach
sehne und es begehre, dann basiert das Geschäftsmodell des Unternehmens auf
Prophezeiung. Auf Gefühltem.
## Liebe. Lust. Happy End
Der Lufthansa-Chef spürt nicht nur, wonach sich die Menschen verzehren. Er
weiß zudem, dass sie das nachholen wollen, worauf sie seiner Meinung nach
so lange verzichten mussten.
Wie lange ist „so lange“?
Was der Lufthansa-Vorstand sagt, macht in seiner Anmaßung erst Sinn, wenn
die Absicht des Sprechenden einbezogen wird: Die Menschen wollen nicht
etwas nachholen, sie sollen etwas nachholen wollen.
Es wird suggeriert, dass die Menschen genau das begehren, was er anbietet:
mehr Flüge. Es wird suggeriert, dass sie eine unbändige Lust, eine
übergroße Sehnsucht danach haben. Er benutzt starke Worte, Liebesworte:
Lust. Sehnsucht. Und er bietet sich als der an, der fürs Happy End sorgt.
Er insinuiert, etwas Gutes zu tun, indem er einen Missstand, den er
Verzicht nennt, ausräumt. Verzicht wird als schlimmes Übel identifiziert.
Und in der kapitalistischen Logik ist er das auch.
Nur wenn die Menschen also ihr altes Konsumverhalten wiederaufnehmen,
möglichst sogar nachholend verstärkt, erleben sie, so prophezeit er:
Erfüllung. In Wirklichkeit aber geht es um sein Begehren.
Denn nur, wenn die Menschen jetzt rumfliegen wie verrückt und konsumieren,
was geht, besteht die Chance, dass die Koordinaten der Geschäftswelt des
Managers wieder dahin rücken, wo sie vor zwei Monaten waren und wo er sie
unabänderlich wähnte. Der Ist-Zustand: fortwährender, sich dynamisch
steigernder Konsum. Das ist der Motor des Kapitalismus. Es muss so sein,
weil es so ist.
Aber nein, es ist nicht so.
Und weil der Lufthansa-Chef im besten Falle weiß, dass er mit seiner
Aussage die Menschen manipulieren will, ihnen also sagen will, dass auch
sie, wie er, die Koordinaten wieder dort setzen sollen, wo er sie braucht,
was ein durchschaubares Manöver ist, wirkt seine Aussage panisch.
## Schlachtfeld des Kapitalismus
Wie ein Virus will er sich ins limbische System im Gehirn der Menschen
bohren, dorthin, wo Emotionen verarbeitet werden. „Das wahre Schlachtfeld
des Kapitalismus ist die Psyche des potentiellen Kunden, von seiner und von
ihrer Stimmung hängt alles ab“, [2][schrieben Elisabeth Raether, Mark
Schieritz und Bernd Ulrich] auf Zeit Online am 1. Mai sehr klug. Also
Bedürfnisse wecken, selbst wenn etwas gar nicht gebraucht wird.
Der Lufthansa-Manager ist nicht der Einzige, der in Verbindung mit Konsum
das Wort „nachholen“ in den Mund nimmt. Bei Tobias Koppmann, einem
Juristen, [3][der mit der Unternehmensberatung McDermott Will & Emery
assoziiert ist, klingt es so:] „Wenn infolge der Lockerungen Geschäfte
wieder öffnen, ist davon auszugehen, dass viele Kunden den verpassten
Konsum nachholen und es dementsprechend zu einer erhöhten Nachfrage kommen
wird.“ So wird er in einem Text auf der Homepage von McDermott zitiert. Die
Unternehmen sollen sich darauf vorbereiten, rät er noch.
Die Eckpunkte seines Denkens sind klar an einer stets zunehmenden
Konsumdynamik orientiert, die vor zwei Monaten jäh unterbrochen wurde,
durch so etwas virtuell Anmutendes wie das Coronavirus.
Und noch einer: Der Markenexperte Klaus-Dieter Koch, der das Unternehmen
Brand Trust gegründet hat und der für den Umgang der Menschen mit dem
Coronavirus drei Phasen ausmacht, die sehr an die Bewältigung von
Liebeskummer erinnern – 1. Schock, 2. Anpassung an die neue Situation, 3.
Aufschwung –, wird auf [4][persoenlich.com, einem „Online-Magazin für
Entscheider und Markenführer“], wie folgt zitiert: „In Phase 3, wenn der
Abschwung hoffentlich in einen Aufschwung dreht, werden wir also verstärkt
konsumieren und Geld ausgeben. Nebst dem Nachholen des Verpassten sehe ich
auch Investitionen in Richtung der neuen Normalität, beispielsweise die
Aufwertung der Wohnung oder des Hauses, von neuen Möbeln bis zum
Garten-Bereich, mehr Unterhaltungselektronik, Verschönerung mit Kunst und
Deko-Materialen, aber auch Selbstoptimierung wie Sportgeräte.“
Bemerkenswert: Bei Koch wird die Möglichkeit mitgedacht, dass nicht nur
Nachzuholendes nachgeholt wird, sondern er prophezeit, dass die neue
Erfahrung in neue Konsummuster führt.
Diese drei Statements sind Mantras von Verwahrern der kapitalistischen
Ökonomie. Allerdings versuchen sie jetzt neben ihren Dienstleistungen und
Konsumgütern noch etwas Drittes zu vermarkten: die Zeit. Denn wer nachholt,
versucht die Vergangenheit zur Gegenwart zu machen.
Ob das gelingt?
Denn was ist Zeit? „Zeit ist das, was man an der Uhr abliest“, sagte Albert
Einstein. Kapitalisten müsste das gefallen, denn immerhin können sie so
Uhren verkaufen.
## Die Unmöglichkeit, etwas im Sinne der Zeit nachzuholen
Einsteins Satz ist eine Hilfskonstruktion, denn nebenbei hat er auch die
Relativitätstheorie begründet und seither gilt, dass Zeit an Raum gebunden
ist und abhängig vom Raum formbar sei, wie auf der Homepage des „MDR
Wissen“ zur Frage „Was ist Zeit?“ zu erfahren ist.
Weil das schwer zu verstehen ist, erklärt mir ein Freund, der Physiker ist,
es in einer Mail so: Lax gesagt sei Zeit etwas, das an jeden selbst
gebunden sei. An dessen sehr subjektive Geschwindigkeit.
Würde er beispielsweise im Garten Urlaub machen und ich eine Weltreise,
„natürlich mit Lufthansa – versteht sich“, dann wäre er, wenn wir uns
wieder treffen, älter als ich. Das ließe sich, schreibt er, wunderbar
deuten: „Wer reist (wer sich spätkapitalistisch in stetiger Beschleunigung
ergeht), verbraucht weniger Zeit, bleibt also (zeitgeistkonform) jung. Und
wer sich langsam im Garten bewegt, hat mehr Zeit genossen. Vielleicht sogar
mehr erlebt.“ So weit zur relativen Zeit.
Für die Unmöglichkeit, etwas im Sinne der Zeit nachzuholen, ist aber ein
anderer Aspekt wichtig: Und zwar der, dass Zeit nur eine Richtung hat.
Nämlich die vorwärts. Auf „MDR Wissen“ steht, dass Zeit die Abfolge von
Ereignissen beschreibe. Sie „hat also eine eindeutige, unumkehrbare
Richtung“. Und: „Wir können zweimal an den gleichen Ort, aber niemals an
die gleiche Zeit.“
## Der Mensch ist, auch wenn er nichts kauft
Nachholen ist also nur im abstrakten Sinne möglich, im Sinne des
Zeitaufholens nicht. Das mache es unmöglich, sagt mein Physikerfreund, dass
Zeit von Menschen und damit auch von Unternehmen kontrolliert werden könne.
Zeit verhalte sich nachgerade subversiv.
Deshalb dürfte der Lufthansa-Chef besonders von Pech verfolgt sein. Denn
wenn ich nun einen Flug, auf den ich verzichtete, nachholen wollte, müsste
ich jetzt gleichzeitig, was kaum gehen wird, mehrmals fliegen, sonst wird
die fluglose Zeit wie eine Hypothek immer weiter mitgeschleppt.
Wer davon ausgeht, dass jetzt konsumierend nachgeholt wird, ignoriert zum
einen, dass zeitbezogen gar nichts nachgeholt werden kann. Aber er
ignoriert auch, dass die vergangenen zwei Monate nicht wie eine
erfahrungslose Leerstelle waren. Eine der Erfahrungen, die gemacht werden
konnte: Der Mensch ist, auch wenn er nichts kauft.
Alle Appelle, jetzt doch zu konsumieren, was geht, sind der Panik
geschuldet, in die die Hüter der spätkapitalistischen Ökonomie geraten
sind. Ihr System braucht das Immermehr. Aber die Annahme, das virusbedingt
angeschlagene Marktgebilde könne mit nachholendem Konsum wieder dorthin
gebracht werden, wo es ohne Virus wäre, scheitert an der Zeit.
23 May 2020
## LINKS
[1] /Wie-Corona-Reisen-veraendert/!5681078
[2] https://www.zeit.de/wirtschaft/2020-05/konsum-kapitalismus-coronavirus-wirt…
[3] https://www.mwe.com/de/insights/was-muessen-unternehmen-nach-den-corona-loc…
[4] https://www.persoenlich.com/marketing/social-buying-wird-ein-grosses-thema-…
## AUTOREN
Waltraud Schwab
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