# taz.de -- Die steile These: Vor Corona war nicht das Paradies | |
> Wenn Fortschritt nur in der Gegenwart stattfinden kann, stellt sich die | |
> Frage: Was ist fortschrittlich an der Corona-Zeit? | |
Bild: Früher war die Gefahr zu sehen, heute ist sie unsichtbar | |
Fortschritt zeigt sich genau genommen immer an der Gegenwart. Das mag jetzt | |
überraschen, denn eigentlich sieht die Wahrnehmung doch so aus: Rückschritt | |
= Vergangenheit, Stillstand = Gegenwart, Fortschritt = Zukunft. Und weil | |
das Wort Fortschritt positiv besetzt ist und Vorstellungen wie Innovation, | |
Beschleunigung, Globalisierung, Echtzeitverfügbarkeit, Wertsteigerung, | |
Mobilität, Optimierung, Effizienz mitschwingen, ist klar, was die Zukunft | |
eigentlich bringen soll. | |
Aber all das geschieht nicht in der Zukunft. Fortschritt kann nur | |
Fortschritt in der Gegenwart sein. Etwas ist schneller, effizienter, | |
optimierter, innovativer, besser geworden, weil wir es als schneller, | |
effizienter, optimierter, innovativer, besser erfahren. Erfahren können wir | |
nur, weil es Gegenwart ist. | |
Wenn dem aber so ist, wie ich behaupte, dass Fortschritt Gegenwart ist, | |
dann kann man sich in der Umkehrung auch die Frage stellen: Was ist das | |
Fortschrittliche an dieser gegenwärtigen Coronazeit? Was weist über sie | |
hinaus? | |
Da gibt es einiges. Unter anderem die Erfahrung: Radikaler Wandel im Alltag | |
ist möglich. Dass es also nicht eines elenden Rumgeeieres bedürfen müsste, | |
beispielsweise Klimaschutzziele einzuführen, sondern dass sie eingeführt | |
werden können. | |
Jetzt. | |
Dass es keines Rumgeeieres bedürfen müsste, Flüchtlinge nach Deutschland zu | |
holen, sondern dass sie geholt werden. | |
Jetzt. | |
Denn das haben nun alle ganz persönlich wie auch kollektiv erfahren, dass | |
sofortiger Wandel möglich ist: nicht rumjetten, nicht konsumieren um des | |
Konsumierens Willen, keine Schule, kein Sextourismus, kein Fluglärm. Geht | |
doch. | |
All dies wurde bereits hinlänglich diskutiert. Und für viele mag das im | |
Einzelnen ein Rückschritt sein. Das widerspricht indes nicht der These, | |
dass Corona gezeigt hat, dass Wandel möglich ist – und das ist der | |
Fortschritt. | |
## Was vorher war | |
Ein Fortschritt in Folge des radikalen Wandels ist auch, dass von der neuen | |
Gegenwart aus zurückgeschaut werden kann auf das Leben davor. Und da ist | |
sogar ein vermeintlicher Nachteil der Coronazeit plötzlich interessant. Der | |
nämlich, dass sich viele Menschen im Lockdown, der als Auszeit, | |
Entschleunigung, Ruhe und damit als Plattform für Regeneration betrachtet | |
werden kann, plötzlich völlig energielos fühlten. | |
Zwei, drei Wochen mag Energielosigkeit normal sein, wenn man nicht krank | |
ist. Aber die Mattigkeit, Lustlosigkeit, Langsamkeit geht auch bei vielen | |
Gesunden nicht weg, selbst jetzt, wo wieder mehr möglich ist. Viele fühlen | |
sich, als ob sich Mehltau auf das Leben gelegt habe, beschreibt der | |
Soziologe Hartmut Rosa das Phänomen. | |
Aus der Corona-Gegenwart, in der es von hundert auf null ging, entsteht | |
also die rückblickende Frage: Wie haben wir das vorher alles geschafft? | |
Arbeit, Reproduktionsarbeit, Freizeit, Mobilsein, Erreichbarsein? Alles im | |
Sinne der Fortschrittlichkeit. | |
Und für wen haben wir es gemacht? Für uns? Zwecks Selbstoptimierung, | |
Selbstverwirklichung, Selbstbefriedigung? | |
## Stillstand ist wie kalter Entzug | |
Der Stillstand legt offen, dass viele Menschen mit großer Energie | |
wahnsinnig viel getan haben. Plötzlich aber rausgerissen, wirke der | |
verordnete Stillstand „wie kalter Entzug“, schreibt der Philosoph Alexander | |
Grau in der [1][Neuen Züricher Zeitung]. „Die Droge Mobilität ist nicht | |
mehr verfügbar.“ | |
Weil den Menschen, so zurückgeworfen auf sich, ihre Energie verlustig geht, | |
bringt der Soziologe Hartmut Rosa so etwas wie „soziale Energie“ ins Spiel. | |
Erst durch die Mitmenschen und Anforderungen in unserem sozialen Umfeld und | |
Alltag werden wir zu Höchstform angetrieben. Der Antrieb fällt im Lockdown | |
weg. | |
Hartmut Rosa erscheine es so, sagt er in einem [2][Interview in der Zeit], | |
dass der weltweite Lockdown zeige, „auf welche Weise unsere hochmobile | |
Gesellschaft energiegeladen war. Fast alle waren permanent unterwegs, | |
beruflich, privat, im Urlaub. Der Energieumsatz unseres Weltverhältnisses | |
war schon allein deshalb gigantisch.“ Und er führt weiter aus: „Wenn meine | |
Beobachtung zutrifft, dass viele jetzt das Gefühl haben, durch die | |
tendenzielle Isolation ihre Energie verloren zu haben, dann bestätigt das | |
nur die Vermutung, dass die Quelle, welche die Bewegungsenergie der Moderne | |
erzeugt, nicht in den Individuen liegt, sondern in den sozialen | |
Wechselwirkungen zu suchen ist.“ Das ist eine geniale Beobachtung. | |
„Soziale Energie“, das klingt erst mal gut. Kommt aber der falsche | |
Fortschrittsgedanke mit ins Spiel, dass Fortschritt nämlich nicht in der | |
Gegenwart erfahrbar ist, sondern nur im zukunftsorientierten Immer-mehr | |
(Kapitalismus), Immer-neuer (Innovation), Immer-wichtiger (Klicks), | |
Immer-internationaler (CO2-Ausstoß), Immer-globalisierter (Corona), | |
Immer-extraterrestrischer (Allmacht), dann muss die Frage erlaubt sein, ob | |
„soziale Energie“ nicht zum Gift der neoliberalen, globalisierten Welt | |
geworden ist. | |
Weil im Corona-Stillstand erfahrbar wird, wie getrieben die modernen | |
Menschen vor Corona waren, müsste nun irgendetwas daraus abgeleitet werden. | |
Und das wird es auch. Nur, ob es fortschrittlich ist, ist unklar. | |
## Das Vorher war kein Paradies | |
Im öffentlichen Diskurs nämlich soll die Dynamik von vorher wieder erreicht | |
werden. Fortschritt ist ja nicht plötzlich negativ besetzt. Der Stillstand, | |
das Innehalten aber wohl. Deshalb wird beklagt, die Wirtschaftsleistung | |
schrumpfe, der Flugverkehr sei längst nicht auf Vor-Corona-Niveau, die | |
Kreuzfahrtindustrie liege am Boden und die Eventindustrie ebenso. Oder es | |
wird gejubelt, dass alles wieder ans Vorher anknüpfe: „[3][Flugverkehr | |
langsam wieder auf Kurs“] heißt es im ORF; „Ifo-Index steigt im | |
Rekordtempo“ vermeldet [4][n-tv]. | |
Hey, war es das jetzt? | |
So, wie ich das hier aufgeschrieben habe, müsste doch deutlich werden, dass | |
das, was hier so positiv in den Medien betitelt wird, an sich schon der | |
Rückschritt ist. | |
Neue Umstände setzten voraus, dass die Wirklichkeit neu gedacht wird. Mit | |
alten Konzepten wird das nicht gelingen. Deshalb ist der Stillstand eine | |
Chance. Denn Müßiggang und Langeweile, das sagen Soziologen und Psychologen | |
auch, ist die Voraussetzung für kreative Lösungen eines Problems. Nur muss | |
man das Problem halt mal benennen. | |
Ich für meinen Teil benenne es so: Fortschritt, der die Zerstörung des | |
Planeten und der Gesellschaft vorantreibt, ist ungesund. Aber nicht nur | |
das, er zerstört uns, wie Corona zeigt, gleich mit. | |
30 Jun 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.nzz.ch/feuilleton/corona-und-melancholie-wir-sind-unfaehig-die-… | |
[2] https://www.zeit.de/kultur/2020-06/hartmut-rosa-soziale-energie-coronavirus… | |
[3] https://tirol.orf.at/stories/3054227/ | |
[4] https://www.n-tv.de/wirtschaft/Ifo-Index-steigt-im-Rekordtempo-article21867… | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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