| # taz.de -- Die steile These: Dekadente Angstlust | |
| > Wie bei einem Wettkampf schauen wir auf die Fallzahlen. Die Faszination | |
| > der Angst ist längst ein Geschäft geworden. | |
| Bild: Wir schauen hin, wenn die Welt in Flammen steht – und fiebern sogar mit? | |
| Es ist Donnerstag, der 26. März, 15 Uhr: Auf der Plattform der | |
| Johns-[1][Hopkins-]Universität werden die Zahlen der Coronainfizierten und | |
| an Covid-19-Verstorbenen ständig aktualisiert. Spanien meldet 6.673 neue | |
| Fälle und hat jetzt 56.188 Infizierte. Deutschland liegt mit 39.502 Fällen | |
| dahinter. Aus den USA werden nun 68.594 Infizierte gemeldet; wäre es ein | |
| Wettkampf, hieße es: Die USA haben sich auf den dritten Platz vorgekämpft. | |
| Als fieberte ich mit. | |
| Zweieinhalb Stunden später, Donnerstag, der 26. März, 17:30 Uhr: Bei | |
| Spanien ist die Zahl gleich, sie wird nur einmal am Tag aktualisiert. Bei | |
| Deutschland sind 6.232 Infizierte dazugekommen, 43.646 sind es jetzt. Und | |
| aus den USA werden nun 75.066 Infizierte gemeldet, Italien ist überholt. Im | |
| Moment. Die italienischen Zahlen kommen später. Weltweit sind jetzt 503.083 | |
| Menschen positiv auf das Virus getestet. Die halbe Million ist gerissen. In | |
| der nächsten Woche wird es die Million sein. Beängstigend sind auch die | |
| Anstiegskurven in Asien, Afrika und Südamerika. | |
| „Herzzerreißend“ sei die Zunahme der Fallzahlen, sagt Tedros Adhanom | |
| Ghebreyesus, der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation WHO – und | |
| vom Beruf her auch Immunologe. Es habe, resümierte er noch Anfang dieser | |
| Woche, 67 Tage vom ersten dokumentierten Fall bis zu den ersten 100.000 | |
| Fällen gedauert, dann elf Tage bis zu 200.000 Betroffenen, dann vier Tage | |
| bis zu 300.000. | |
| Dieser stete Blick auf die Zahlen, das geht jetzt schon zwei Wochen lang | |
| bei mir. Als könne ich nur so die Rasanz des Geschehens verstehen. Mit | |
| morbider Faszination fresse ich die Zunahme mehrmals am Tag in mich hinein, | |
| sauge sie auf. Das Bild des Einverleibens ist mit Absicht gewählt. Da ist | |
| etwas, das genährt werden will. Nur was genau? | |
| ## Eine unsichtbare Gefahr | |
| Es ist Angst, klar. Aber nicht nur das. Da ist auch Faszination, fast eine | |
| Lust an der Angst. Kommt noch die Fantasie, die gespeist wird. Fantasie, | |
| die sich versucht auszumalen, was morgen sein wird, in einer Woche, einem | |
| Monat, einem Jahr. Und es doch nicht ausmalen kann. | |
| Das Virus ist eine unsichtbare Gefahr. Jede einzelne Person könnte sich | |
| jederzeit damit infizieren. Das muss nicht schlimm sein, kann es aber. Wen | |
| es trifft, geschieht kaum nach Regeln. Da ist Zufall und Chaos. Hinzu | |
| kommt: Das Virus ist tödlich – für einige. Und selbst wenn es bisher eher | |
| Ältere und Vorerkrankte trifft, wird doch zunehmend klar, es kann auch | |
| Junge und Gesunde treffen. | |
| So werden die Menschen – auch wir, die in vergleichsweise kontrollierbaren | |
| Lebensumständen stecken – in die Ungewissheit gestoßen. Damit umzugehen ist | |
| die Herausforderung. Es ist, als wären wir alle nun auf einer Expedition | |
| zum Mars, ob wir ankommen?, ob Leben dort möglich ist?, ob es gut ausgeht? | |
| – keine Ahnung. | |
| Wer ständig auf die steigenden Infektionszahlen starrt, rennt der Gegenwart | |
| hinterher, bewertet diese aber mit Erfahrungen der Vergangenheit. Mit | |
| mathematischen Kurven und Fragen an die Forschung, von der man erwartet, | |
| dass sie liefert, damit das gelöst werden kann, damit es ein Ende hat. | |
| Damit wir wieder Kontrolle übernehmen können und nicht dem Untergang | |
| zustreben. | |
| ## Der Ausnahmezustand wird vermarktet | |
| Denkbar indes: Die neue Gegenwart ist mit alten Koordinaten nicht | |
| einzuhegen. Schicksal und Chaos bleiben. Und es ist auch kein Spiel, nichts | |
| Selbstgewähltes, nichts, das wir selbst steuern können. In all der | |
| Ratlosigkeit wird dann wieder der Blick auf die Zahlen geworfen. Wie ein | |
| Glücksspieler, der die Erlösung sucht und doch nur immer wieder erfährt, | |
| dass die Anstrengung, die ihm abgefordert wird, um zu durchdringen, was | |
| passiert, nicht aufhört. Da ist nicht nur Angstlust, auch Angstsucht. | |
| Dass Angst und Lust zusammenkommen können, ist lange bekannt. | |
| Entdeckungsreisen, Stierkämpfe, Gruselkabinette, ja sogar klassische Dramen | |
| setzten auf die Erleichterung nach überstandener Gefahr. | |
| Das Wort „Angstlust“ hat sich als Begriff im deutschen Kulturraum dazu | |
| entwickelt. Es ist unübersetzbar. Es beschreibt dieses widersprüchliche | |
| Gefühl, dass aus überstandener Angst ein lustvolles Gefühl erwächst und | |
| auch dass die Angst als lustvoll empfunden werden kann. In den 50er Jahren | |
| hat der Psychoanalytiker Michael Balint das Phänomen erstmals | |
| tiefenpsychologisch analysiert. | |
| „Angstlust“ hat in der modernen, neoliberalen Gesellschaft allerdings eine | |
| seltsame Wendung genommen. Denn der Ausnahmezustand wird nicht nur gesucht, | |
| er wird auch regelrecht vermarktet. Eine ganze Industrie ist darauf | |
| ausgerichtet, den Nervenkitzel zu verkaufen. Was sonst soll das sein, wenn | |
| sich Leute an Gummiseilen Brücken hinunterwerfen, ohne Absicherung | |
| senkrechte Felsen erklettern, wenn sie Eistauchen oder sich wie Batman in | |
| einem Fledermauskostüm Berge hinunterfallen lassen? | |
| ## Genug Stoff für das finale Desaster | |
| Auch Naturkatastrophen werden gehypt, Hurrikan-Tourismus inbegriffen. Als | |
| der Tsunami am 26. Dezember 2004 in Südostasien war und die Todeszahlen | |
| minütlich stiegen, gab es diese Faszination, mit der das Ausmaß des | |
| Desasters nicht begriffen werden konnte, bei mir auch. Ich starrte auf die | |
| Zahlen, um zu verstehen, und hab doch nicht verstanden. | |
| Es braucht weder Extremsport noch Naturkatastrophe, um in die | |
| Grenzsituation von Angst und Lust zu geraten. Die Gegenwart reicht auch | |
| ohne Corona schon aus, einem Angst einzujagen und der Erfahrung | |
| nachzuspüren, wie viel davon man lustvoll aushalten kann. Klimadesaster und | |
| Globalisierung, Krieg anderswo, Rassismus und Flüchtlingselend, | |
| Wiederaufrüstung und Atomwaffen, da ist genug Stoff, sich das finale | |
| Desaster auszumalen. „Wer das finale Desaster imaginiert, will die Angst | |
| vor dem Kontrollverlust, ja vor dem Verlust des Selbst besiegen“, schreibt | |
| der Kulturjournalist Stefan Lüddemann. | |
| Als Hinweisschilder in das finale Desaster fungieren die Statistiken mit | |
| ihren immer höheren Zahlen. Anzeigen wie bei alten Flughafentafeln, auf | |
| denen mit einem Rattern der sich ändernden Ziffern aufgelistet wird, wie | |
| viel CO2 in die Luft gepustet wird, wie viele Steuerschulden wir haben, wie | |
| viele Menschen stetig an Nikotinkonsum sterben. | |
| Marketing- und Öffentlichkeitsstrategen haben die Wirkung dieser | |
| Statistiken, die ins Unbegreifliche gehen, erkannt. Je höher die Zahl, | |
| desto größer soll der Schrecken sein, aber er ist es nicht, weil wir die | |
| Dimension von hohen Zahlen gar nicht begreifen können. Wie viel sind 70,6 | |
| Millionen Flüchtlinge weltweit? Die Zahl stammt vom UNHCR. Wie viel sind | |
| 23,5 Billionen Dollar Staatsverschuldung in den USA, wie es die | |
| [2][Schuldenuhr] am 26. März um präzise 14:30 Uhr vorgab? | |
| ## Der moderne Mensch kann sich Angstlust leisten | |
| „Nackte Zahlen gelten als unattraktiv und langweilig. Hohe Zahlen lösen | |
| dagegen eine enorme Faszination aus, besonders, wenn sie auch noch in | |
| Bewegung sind. Gerade bei Dingen, die unser Vorstellungsvermögen sprengen | |
| oder bei denen wir einfach den Überblick verloren haben“, schrieb | |
| Christiane Varga im Magazin Trend Update des Zukunftsinstituts 2013. | |
| Angstlust ist zum dekadenten Luxus des modernen Menschen geworden. Er kann | |
| es sich leisten. Noch. Würden wir uns nicht an der Angst ergötzen, würden | |
| wir vielleicht besser verstehen, wie fragil unser Leben ist. Und wie | |
| abhängig von der Umwelt. | |
| Es ist Donnerstag, der 26. März, 23:30 Uhr: Auf der Plattform der | |
| Johns-Hopkins-Universität steht, dass die USA nun 82.174 mit dem Virus | |
| infizierte Menschen haben. Im Laufe dieses Tages sind 13.963 Fälle dazu | |
| gekommen. Italien ist eingeholt. China auch. Die USA sind Erster. | |
| 29 Mar 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.worldometers.info/coronavirus/#countries | |
| [2] https://www.gold.de/staatsverschuldung-usa/ | |
| ## AUTOREN | |
| Waltraud Schwab | |
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