# taz.de -- Niko Paech über Postwachstum und Corona: „Nicht mehr zurück ins… | |
> In der Zwangspause vom Leistungsstress erkennen viele Menschen die | |
> Vorteile einer entschleunigten Gesellschaft, sagt Wachstumskritiker Niko | |
> Paech. | |
Bild: In Deutschland ist ein Leben ohne Mango zumutbar, sagt Wachstumskritiker … | |
taz: Herr Paech, ist die Coronakrise eine Gelegenheit, das | |
Wirtschaftswachstum und die damit einhergehende Umweltzerstörung dauerhaft | |
zu bremsen? | |
Niko Paech: Ja, die Coronakrise ist eine Chance. Krisen decken | |
Fehlentwicklungen auf: Die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern wie | |
Atemschutzmasken oder Beatmungsgeräten erscheint plötzlich gefährdet. Unser | |
Wohlstandsmodell entpuppt sich als verletzlich. Darauf können wir | |
angemessen nur mit einer [1][Postwachstumsstrategie] reagieren. | |
Was bedeutet das? | |
Wir müssen auf Wirtschaftswachstum verzichten. Die deutsche Wirtschaft | |
beispielsweise müsste weniger komplex und autonomer werden, damit im | |
Krisenfall alle substanziellen Güter vor Ort hergestellt werden können. | |
Eine [2][Deglobalisierung] mindert zwar die Kostenvorteile der entgrenzten | |
Arbeitsteilung, stärkt aber die Stabilität. Das hat ökologische und soziale | |
Wirkungen. | |
Welche? | |
Kürzere Wertschöpfungsketten lassen sich demokratischer und ökologischer | |
gestalten, weil wir leichter auf sie einwirken können. Gleichwohl kann dies | |
die Arbeitsproduktivität senken. Also steigen die Preise, während die | |
Auswahl und die Produktionsmengen sinken, tendenziell auch die Löhne. | |
Einfach weil Unternehmen dann die Produktion nicht mehr so leicht in | |
spezialisierte Teilprozesse zerlegen und sie an die jeweils kostenoptimalen | |
Standorte verschieben können. Dann werden die Menschen sich nicht mehr so | |
viel leisten können. Die bessere Welt kriegen Sie nicht zum Nulltarif. Aber | |
das bringt Krisenstabilität und neue Arbeitsplätze, wenngleich weniger im | |
akademisierten als im handwerklichen Bereich. | |
Das werden Regierungen nur machen, wenn die Wähler zustimmen. Ist das zu | |
erwarten? | |
Noch gibt es dafür keine Mehrheit. Aber die Coronakrise deckt für mehr | |
Menschen auch Sinnkrisen auf. Viele Menschen leben nicht nur materiell, | |
sondern auch psychisch über ihre Verhältnisse. Durch die Zwangspause vom | |
Leistungsstress spüren sie, was ihnen zuvor verborgen blieb: Ein | |
stressfreieres und verantwortbares Leben zum Preis von weniger Konsum- und | |
Reisemöglichkeiten ist vielleicht gar kein schlechter Deal, zumal sich die | |
Balance zwischen beidem austarieren lässt. Manche werden gar nicht mehr | |
zurück ins Hamsterrad wollen, sondern möchten etwas von dem, was sie jetzt | |
als Entlastung erleben, in die Post-Corona-Zeit hinüberretten. | |
Warum sind Sie eigentlich da so optimistisch? | |
Es mehren sich Erlebnisberichte darüber, wie Menschen die freigestellte | |
Zeit genießen. Viele räumen auf, reparieren, arbeiten im Garten, lesen viel | |
oder wenden sich Familienmitgliedern zu. | |
Ist es nicht wahrscheinlicher, dass viele Leute ihre jetzt unterdrückten | |
Konsumwünsche nach der Krise erst recht ausleben? | |
Kann gut sein, dass sich manche in „Wohlstandstrotz“ üben werden. Aber von | |
Krise zu Krise wächst der Anteil der Menschen, die sich dem Steigerungswahn | |
verweigern und ökologischen Vandalismus missbilligen. Das kann neue | |
gesellschaftliche Konflikte verursachen – aber ohne die wird es keinen | |
Wandel geben. | |
Viele Eltern haben in der Coronakrise sogar mehr Stress, weil die | |
Kinderbetreuung fehlt. Zahlreiche Menschen entwickeln Zukunftsängste. Kann | |
daraus wirklich etwas Positives entstehen? | |
Früher oder später wird die Angst um die Überlebensfähigkeit unserer | |
Zivilisation größer sein als die Angst vor dem Wohlstandsverlust, der sich | |
zudem begrenzen und ertragen ließe. Aber je weniger Konsequenzen Richtung | |
Postwachstumsökonomie gezogen werden, desto mehr gilt: Nach der Krise ist | |
vor der Krise. | |
Heißt das: Je häufiger Krisen kommen, desto schneller gibt es eine Mehrheit | |
für Degrowth? | |
Ja. Die [3][Lehman-Brothers-Krise 2009] galt als schwerster Einbruch seit | |
dem Schwarzen Freitag 1929. Jetzt sind gerade kaum mehr als zehn Jahre | |
vergangen und eine noch schlimmere Krise breitet sich aus. Die Einschläge | |
rücken näher. Lehman, Corona und die absehbar nächsten Krisen haben | |
dieselbe Ursache: eine Lebensform, die auf blindwütiger Digitalisierung, | |
Entgrenzung und Wohlstandsmehrung beruht. Weil diese Entwicklung | |
weitergeht, sind die Ursachen der nächsten Krise bereits angelegt. | |
Inwiefern? | |
Im Wettbewerb um die Wählergunst überbieten sich Parteien darin, | |
kurzfristig Symptome zu lindern, also alles, was nicht bei fünf auf den | |
Bäumen ist, mit viel und billigem Geld zu übergießen, statt Strukturen so | |
zu verändern, dass langfristig das Krisenrisiko sinkt. Insoweit dies auf | |
Schulden basiert, steigt die Wahrscheinlichkeit einer Finanzkrise. Es fehlt | |
der Mut, eine Vermögensabgabe oder einen Lastenausgleich in Gang zu | |
bringen, um diese Kosten durch Umverteilung zu finanzieren. Die Angst | |
davor, dass dies Wählerstimmen kostet, ist noch zu groß. | |
Microsoft-Gründer Bill Gates sagt: Es wird zum Beispiel weniger | |
Geschäftsreisen geben und dafür mehr Videokonferenzen. Gibt das Hoffnung? | |
Wenn Bill Gates das sagt, verbirgt sich dahinter die Hoffnung auf den | |
Durchmarsch der Digitalisierung. Aber die Coronakrise ist gerade eine Krise | |
der Digitalisierung. | |
Das Virus ist doch nicht über das Internet übertragen worden. | |
Ohne hinreichende Globalisierung des Personen- und Güterverkehrs wäre aus | |
einer Epidemie keine Pandemie geworden. Und die entgrenzte Verflechtung | |
zwischen Ländern beliebiger Entfernung, so auch zwischen China und Europa, | |
ist ein Produkt der Digitalisierung – ganz gleich ob durch erschwingliche | |
Direktflüge von Wuhan nach Italien oder intensive | |
Wertschöpfungsbeziehungen. Nur kraft digitaler Medien konnte der bayerische | |
Autozulieferer, bei dem der erste deutsche Coronafall festgestellt wurde, | |
in China produzieren: Eine chinesische Webasto-Mitarbeiterin trug das Virus | |
nach Deutschland. Die Digitalisierung ist zugleich Basis und | |
Brandbeschleuniger aller Modernisierungskrisen. | |
In welchen Bereichen sollte die Globalisierung zurückgefahren werden? | |
Wenn Produkte, für die globale Lieferketten oder Verflechtungen in Kauf | |
genommen werden, eines dieser vier Kriterien erfüllen, sollten sie im | |
Inland erzeugt oder komplett vermieden werden. Erstens: Sie sind purer | |
Luxus. Zweitens: Sie verursachen große ökologische Schäden. Drittens: Ihre | |
Bereitstellung ist von sozialen Verwerfungen begleitet. Oder viertens: Sie | |
sind so essenziell, dass ihre auswärtige Produktion zu kritischen | |
Abhängigkeiten führt. | |
Konkret: Auf welche Produkte sollten wir verzichten? | |
Ein Leben ohne Mango, Kiwi, Avocado und Futterimporte für die | |
Fleischindustrie zum Beispiel ist erträglich. Das gilt auch für | |
Kreuzfahrten und Urlaubsflüge. | |
Warum nennen Sie Lebensmittel zuerst? | |
Es handelt sich um das substanziellste Grundbedürfnis. Außerdem verursacht | |
die konventionelle Landwirtschaft aufgrund ihres globalen | |
Verflechtungsgrades soziale und ökologische Verwerfungen: Landgrabbing, die | |
Urwaldzerstörung für den Futtermittelanbau, die Überschwemmung | |
afrikanischer Märkte mit Hähnchenteilen und vieles mehr. Weiterhin leisten | |
wir uns den Luxus einer quasi Sklavenhalterwirtschaft, indem Fremdarbeiter | |
aus Rumänien sogar eingeflogen werden, weil es unter der Würde junger | |
Menschen in Deutschland ist, die für den Wohlstand nötige Arbeit selbst zu | |
verrichten. Landwirtschaftliche Arbeit müsste wieder attraktiver werden – | |
als Alternative zu Work and Travel und Akademisierungswahn. | |
Eine umweltfreundlichere Landwirtschaft setzt zum Beispiel weniger | |
Pestizide ein. Deshalb werden mehr Arbeitskräfte etwa zum Unkrautjäten | |
benötigt. Wie wollen Sie Leute motivieren, auf den Höfen zu arbeiten? | |
Die Attraktivität steigern würden angemessene Löhne und eine | |
20-Stunden-Woche, sodass Freiräume für andere, auch wissensintensive | |
Aktivitäten entstehen. Zudem erhöht der ökologische Landbau die | |
Sinnstiftung und Reputation der Arbeit. | |
Gerade haben wir kein Wachstum mehr – und die Arbeitslosigkeit steigt. | |
Zeigt das, dass Degrowth schädlich ist für uns? | |
Auch für einen Bankräuber ist es schädlich, ihm die Beute zu entreißen. | |
Unser Wohlstand resultiert nicht aus eigener Arbeit, sondern technologisch | |
verstärkter Plünderung, bedürfte also ohnehin einer Korrektur. | |
Arbeitslosigkeit kann durch eine verringerte Erwerbsarbeitszeit vermieden | |
werden, sagen wir: 20 Stunden pro Woche. Daran ließe sich die wichtigste | |
Maßnahme knüpfen, um soziale Verwerfungen zu vermeiden: nämlich Menschen | |
unabhängiger von Konsumbedürfnissen werden zu lassen. Dies gelingt erstens | |
durch mehr Genügsamkeit, die keinen Verzicht, sondern eine Befreiung von | |
Reizüberflutung bedeutet: „All you need is less“ nennen mein Co-Autor | |
Manfred Folkers und ich die neue Maxime. Zweitens sollte die Versorgung | |
teilweise in eigenen Händen liegen, indem Produkte erhalten, repariert, mit | |
anderen geteilt und auch selbst produziert werden. Eine Wirtschaft des | |
Teilens und der Nutzungsdauerverlängerung – auch auf Basis neuer Märkte und | |
Unternehmen – ist eine weitere Alternative zur krisenbehafteten | |
Globalisierung. | |
Freuen Sie sich über den aktuellen Konjunktureinbruch? | |
Nein. Wachstumskritik sieht keine Schocktherapie vor, sondern eine sozial | |
verträgliche Transformation. | |
27 Apr 2020 | |
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