# taz.de -- Soziologe über Chancen durch Corona: „Wir brauchen die Industrie… | |
> Wer die Coronakrise für die Transformation nutzen will, muss jetzt für | |
> eine Rückkehr ins Tarifsystem streiten, sagt der Soziologe Gerhard Bosch. | |
Bild: Arbeit als Chance | |
taz: Herr Bosch, gibt es Berechnungen, was es für die Arbeitsplätze in der | |
Autoindustrie bedeuten würde, wenn Daimler und Co künftig Busse und | |
Lastenfahrräder statt Autos bauen, wie es diverse NGOs vorgeschlagen haben? | |
Gerhard Bosch: Nein, das ist mir nicht bekannt, aber die Auswirkungen wären | |
immens. Eine solche radikale Wende von heute auf morgen funktioniert nicht, | |
die Umstellung erfordert Zeit. Es müssen neue Produkte entwickelt und | |
Lieferketten etabliert werden. | |
Ist der Einschnitt der Corona-Krise nicht ein guter Startpunkt für einen | |
Wandel? Wir sehen doch, wie schnell Änderungen möglich sind... | |
Die ökologische Wende muss in schrittweise Programme übersetzt werden, | |
sonst fühlen die Menschen sich bedroht und das führt dann zu Widerstand. Es | |
wird sowieso ein gesellschaftlicher Kraftakt, dass nicht diejenigen, | |
[1][die die ökologische Wende bisher nicht wollten], jetzt wieder die | |
Oberhand bekommen. Das könnte passieren, weil auf betrieblicher Ebene die | |
Sorge um den Arbeitsplatz das Bedürfnis nach einer ökologischen Wende | |
überwiegt. | |
Der Vorschlag der NGOs ist doch ein Versuch, dem etwas entgegen zu | |
setzen... | |
Ja, aber er ist politisch kontraproduktiv. Natürlich muss das | |
Wiederanfahren der Wirtschaft mit einer ökologischen Wende begleitet | |
werden. Aber statt mit Utopien wie „Fahrräder statt Autos“ aufzutreten, die | |
sich gut anhören, aber nie eine Chance auf Umsetzung haben, sollten wir | |
lieber pragmatisch sehen, wie man das künftige Konjunkturprogramm | |
ökologisch ausgestalten kann. Es ist doch interessant, dass die IG Metall | |
sich den Forderungen nach einer Abwrackprämie bislang nicht angeschlossen | |
hat. In der Finanzkrise war das noch ganz anders. Das ist ein historischer | |
Fortschritt, obwohl es innerhalb der Gewerkschaft durchaus Forderungen | |
danach gibt. | |
Noch im vergangenen Jahr waren die Gewerkschaften mit die zähesten Kritiker | |
des Kohleausstiegs. Woher kommt der Wandel? | |
Es gibt in den Gewerkschaften längst eine breite Diskussion über den Umbau | |
der Industrie. Natürlich sind die Beharrungskräfte in der | |
Energiegewerkschaft IGBCE stärker als bei Verdi, das hat auch mit | |
Interessen zu tun. Aber grundsätzlich ist bei Ihnen eine Offenheit | |
vorhanden, die Transformation mit zu gestalten, weil ihnen klar ist, dass | |
sie sonst als Blockierer in die Verliererecke geraten. | |
In Zukunftskonzepten von Herstellern wie Daimler und BMW liegt die Zukunft | |
der Mobilität in den Metropolen, Wachstum versprechen sie sich von | |
Dienstleistungen wie Parkmanagement oder Autoverleih. Was für Jobs | |
entstehen da? | |
Vielfach werden gut bezahlte Jobs in der Industrie durch gering bezahlte | |
Dienstleistungsarbeit ersetzt. Die Angst vor dem Strukturwandel ist daher | |
absolut berechtigt! Es wäre zudem falsch, die Industrie einfach | |
abzuschreiben. Für eine ökologische Wende brauchen wir ihre Kompetenz und | |
Innovationskraft Natürlich müssen wir dafür auch [2][unseren Lebenswandel | |
verändern]. Aber es gilt eben auch, dass wir den Ressourcenverbrauch nur | |
mit High-Tech weiter vom Bruttosozialprodukt abkoppeln können. | |
Die Frage ist doch, ob sich die Sicherheiten, Mitbestimmungsrechte, Löhne | |
der Industriearbeitsplätze in eine postindustrielle Arbeitswelt | |
hinüberretten lassen. | |
Hinüberretten lässt sich gar nichts. Die Wiege der Arbeiterbewegung steht | |
in der Industrie und im öffentlichen Dienst. Dort sind Tarifbindung und | |
Mitbestimmung noch hoch, aber sie bröckeln auch. 1990 hatten wir in der | |
Bundesrepublik eine Tarifbindung von 85 Prozent der Arbeitnehmer – heute | |
sind es noch 56 Prozent, im Osten weniger. Das ist hierzulande auch der | |
Hauptgrund für Einkommensunterschiede. Ganze Branchen kennen inzwischen gar | |
keine Tarifbindung oder Betriebsräte mehr. Dazu gehören übrigens | |
Zukunftsbranchen wie die Windenergie. Dort sehen wir eine Kombination aus | |
ökologischer Produktion und radikalem Neoliberalismus. Die Synthese von | |
Sozialem und Ökologie funktioniert nicht ohne Weiteres. | |
Befördert die Corona-Krise diese Synthese? | |
Wir könnten die Debatte über die Bezahlung systemrelevanter Berufe nutzen, | |
um in Tarifsysteme zurückzukehren. Bis 2000 hatten wir im Einzelhandel in | |
NRW eine Tarifbindung von 100 Prozent, heute sind es noch 36 Prozent. Eine | |
gelernte Verkäuferin bekommt zum Beispiel in NRW heute einen Tariflohn | |
zwischen 13,90 und 17,20 Euro, in nicht tarifgebundenen Betrieben bis zu 30 | |
% weniger. | |
Wer die ökologische Transformation möchte, muss jetzt für das Tarifsystem | |
streiten? | |
Ganz genau. Das Bestehende ist ein gut bezahlter Arbeitsplatz, die | |
Alternative ist oft ein schlechter Job ohne Mitbestimmung. Mit der Aussicht | |
werden die Menschen konservativ. | |
30 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Heike Holdinghausen | |
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