# taz.de -- Freiheit in Zeiten von Covid-19: Halt auf freier Strecke | |
> Wenn die Gesellschaft wieder hochfährt, darf sie nicht bloß zur | |
> Subjekt-Freiheit zurückkehren. Sie muss auch an freieren Grundbedingungen | |
> arbeiten. | |
Bild: Man soll sein Abteil nicht mehr verlassen, es sei denn um das Dringendste… | |
Es muss schon eine ernsthafte Gefahr bestanden haben, wenn der Zug mitten | |
im schönsten Betrieb auf freier Strecke angehalten wurde. Sollte hier | |
jemand etwa die Notbremse betätigt haben? Den Anordnungen des Personals sei | |
unbedingt Folge zu leisten, verkünden die Lautsprecher. Man soll sein | |
Abteil nicht mehr verlassen, es sei denn um das Dringendste zu erledigen. | |
Mund und Nase bedecken und Abstand zum nächsten Mitreisenden halten! Man | |
hat derlei schon in Filmen gesehen. | |
Nach einiger Zeit wird einem klar, wie sehr – paradox genug – die | |
Stabilität des Ganzen auf der Beweglichkeit beruhte. Wenn die Maschine zur | |
Ruhe kommt, werden die Menschen unruhig. Und das Personal gibt seine | |
Anweisungen ja auch eher widerwillig. Die Notwendigkeit ist nicht unbedingt | |
in ihrem Interesse. Noch nicht. Und was ist mit der Freiheit? Man kommt | |
jetzt ins Grübeln; man hat ja Zeit. | |
Freiheit, hat [1][ein sehr preußischer Philosoph] (Georg Wilhelm Friedrich | |
Hegel) einst gesagt, sei die Einsicht in die Notwendigkeit. Im Küstenland, | |
genauer, in Amsterdam, behauptete ein anderer (Baruch de Spinoza), es könne | |
von Natur aus so wenig wie von Staat und Gesellschaft aus so etwas wie | |
„Willensfreiheit“ geben, dafür aber eine „Urteilsfreiheit“. Schließli… | |
erkannte eine große Kommunistin (Rosa Luxemburg), dass Freiheit immer nur | |
[2][die Freiheit der anderen sei]. | |
Mit diesen drei Bedingungen für Freiheit könnte man sich’s im Abteil so gut | |
es eben geht bequem machen, schließlich sitzen wir hier alle gemeinsam | |
fest, nicht wahr. Ich bleibe in meinem Abteil, bedecke Mund und Nase und | |
halte Abstand zu den Mitreisenden, nun ja, den Mit-Nichtreisenden jetzt, | |
nicht weil ich den Anordnungen des Personals folge, sondern weil es das | |
Richtige ist. Und weil ich ja mit der Bewegungs- keineswegs die | |
Urteilsfreiheit verloren habe, ist mir durchaus unbenommen, Unfähigkeit, | |
Korruption und Missbrauch beim Personal zu sehen. Und weil ich meine | |
Freiheit nur als gerecht geteilte und ebenso als gegebene wie genommene | |
verstehen kann, so ist die Rücksicht auf die Mitreisenden ebenso Teil der | |
Freiheit wie der Notwendigkeit. | |
Wir befinden uns gerade in einer Schnittmenge [3][zwischen den Anordnungen | |
des Personals und der persönlichen Freiheit] (im Zusammenhang mit Einsicht | |
in die Notwendigkeit, Urteilskraft und Gerechtigkeit verstanden). Das soll | |
aber noch lange nicht heißen, dass sich das eine dem anderen unterordnen | |
werde oder dass beides gar irgendwie identisch miteinander sei. Es muss dem | |
einen genauso wie dem anderen widersprochen werden, wenn nötig energisch. | |
Als alle Züge noch in voller Fahrt und überhaupt in Bewegung waren, war | |
Freiheit, genauer gesagt: die Freiheit des Subjekts, noch | |
selbstverständlich – als beängstigender Teil der Arbeit und als lustvoller | |
Teil des Konsums. Ich kann machen, was ich will, das ist ein freies Land. | |
Diese Freiheit des Subjekts wurde zum Fetisch und führte zu einem weiteren | |
Paradoxon: Die freiesten Menschen der Welt leben in der unfreiesten | |
Gesellschaft der Welt. Jeder und jede kann machen, was er oder sie wollen | |
kann, wenn auch das Wollen zugleich von ungeheuren Bild- und Traummaschinen | |
bestimmt wird; aber niemand kann noch Teil an wirklichen Entscheidungen | |
nehmen. Dies will der Markt, und das ist eben Psychologie, jenes eben | |
menschlich, Wählerwille, Marketing und Gewohnheit, und der Rest, wir | |
erleben es gerade: notwendig. Das Ich-kann-machen-was-ich-will ist ganz nah | |
dran am Da-kann-man-nichts-machen. Am Ende der grandiosen Subjekt-Freiheit | |
und der Markt-Diktatur stehen die Trumps, Johnsons, Salvinis und Meuthens. | |
So finden sich in den Gruppen derer, die sich derzeit die Einschränkungen | |
der subjektiven Freiheiten nicht gefallen lassen und die den Anordnungen | |
des Personals nur Lug und Trug unterstellen, die unterschiedlichsten | |
Impulse. | |
Da sind die üblichen Soziopathen, denen alle Mitmenschen ohnehin am Arsch | |
vorbeigehen, [4][da sind die Verschwörungsparanoiker] und die braunen | |
Adabeis, die immer ihr Süppchen kochen, wenn es irgendwo ein Feuer gibt. | |
Aber es gibt auch durchaus intelligente Zeitgenossinnen und -genossen, die | |
sehr, sehr berechtigte Befürchtungen haben, das Personal könne die frisch | |
erworbene Autorität dazu benutzen, die Verhältnisse von Macht und Freiheit | |
neu zu sortieren. In ihrem Sinne ebenso wie in dem der Herren über die | |
Bewegungsmaschinen. | |
Wenn man jetzt notwendigerweise innehalten muss, fällt einem vielleicht | |
auf, dass die Freiheit der Subjekte, sofern sie nicht ohnehin pure Illusion | |
war, nicht genutzt worden ist, um eine Freiheit des Systems zu fordern. | |
Wenn die Bewegungsmaschinen erst wieder laufen, könnten sie, ohne die Ideen | |
der subjektiven Freiheit normativ groß anzugreifen, noch mehr zur | |
Transformation von einer Gesellschaft der Freien zu einer unfreien | |
Gesellschaft beitragen. | |
Denn auch die Einsicht in die Notwendigkeit, die Urteilsfreiheit und die | |
Freiheit, die man den anderen zubilligt, um sie selbst zu erfahren, sind | |
keine naturgegebenen Eigenschaften des Menschen; sie müssen erarbeitet, | |
erargumentiert und wenn nötig erkämpft werden. | |
Am Ende erstickt die unfreie Gesellschaft auch die Subjekt-Freiheit, ob man | |
das nun merkt oder nicht. Es muss also, wenn der Halt auf freier Strecke | |
beendet wird, nicht bloß die Rückkehr zur Subjekt-Freiheit folgen, sondern | |
eine gemeinsame Arbeit an einer freieren Gesellschaft. | |
Ruckelnd fährt der Zug irgendwann wieder an. Langsam, so sagt das Personal, | |
kehre man zur Normalität zurück. Wir Reisende wissen aber nicht zu sagen: | |
Ist das ein Versprechen? Oder doch eher eine Drohung? | |
22 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Georg Seeßlen | |
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