# taz.de -- Coronafälle in Oberschlesien: Tausende Kohlekumpel infiziert | |
> Überall in Polen gehen die Corona-Infektionen zurück, nur nicht im | |
> Steinkohlerevier um Kattowitz. Trotz Versicherungen der Regierung. | |
Bild: Coronatest an der Staszic-Mine: Einige Steinkohlegruben könnten für imm… | |
Husten, Atemnot und Bronchitis gehören zum Alltag der Bergleute im | |
oberschlesischen Kohlerevier rund um [1][Kattowitz]. Doch seit Kurzem | |
grassiert hier zusätzlich das Coronavirus. Während in fast ganz Polen die | |
Zahl der Infizierten zurückgeht, steigt sie in Oberschlesien seit Tagen | |
rasant an. | |
Die Förderkörbe, in denen über ein Dutzend Kohlekumpel dicht gedrängt in | |
den Berg einfahren, die schweißtreibende Arbeit an den Steinkohlewänden und | |
am Ende des Arbeitstages das Duschen in einem gemeinsamen Duschsaal bieten | |
der Tröpfcheninfektion einen geradezu idealen Nährboden. Doch bis vor | |
Kurzem glaubten die Kumpel noch einer Regierungs-Expertise, laut der das | |
Coronavirus unter Tage keine Überlebenschance habe und die Bergleute sicher | |
seien. Ein fataler Irrtum: Jetzt sind Tausende von ihnen krank. | |
Laut polnischem Gesundheitsministerium gibt es in Polen zurzeit (Stand | |
20./21. Mai) 19.983 offiziell bestätigte Covid-19-Infizierte, darunter | |
allein in Oberschlesien 6.082. Bislang waren die meisten in der Region | |
Masowien, in der auch Polens Hauptstadt Warschau liegt, gemeldet. Doch | |
inzwischen ist die Region mit insgesamt 3.082 positiv Getesteten auf Rang | |
zwei zurückgefallen, während in Oberschlesien täglich rund 100 bis 300 neue | |
Fälle hinzukommen. | |
Dass Oberschlesien nun als „Lombardei Polens“ das neue Epizentrum der | |
Pandemie bilde, hören die Menschen in Oberschlesien überhaupt nicht gerne. | |
Denn wie die meisten Polen verbinden sie mit der reichen Lombardei vor | |
allem den anfänglich sorglosen Umgang vieler Italiener mit der | |
Ansteckungsgefahr durch das Virus. Die oberschlesischen Bergleute seien | |
aber nicht schuld daran, dass die Kohlengruben erst jetzt einen Förderstopp | |
verhängten, und das noch nicht einmal überall. | |
## Angst vor Abriegelung und Zwangsquarantäne | |
Als dann auch noch das Gerücht aufkam, dass die Regierung in Warschau die | |
Armee nach Oberschlesien schicken wolle, um die Region abzuriegeln, war | |
die Stimmung endgültig im Keller. Angeblich sollte eine zweiwöchige | |
Quarantäne der Region verhindern, dass die anderen Landesteile einen | |
Rückfall erlitten. | |
Um sich ein Bild zu machen und die Lage zu beruhigen, fuhr erst der für | |
alle Staatsunternehmen zuständige Schatzminister Jacek Sasin nach | |
Oberschlesien und am Samstag dann auch Premier Mateusz Morawiecki. Geholfen | |
hat es kaum. Zwar dementierten die beiden Politiker der | |
[2][nationalpopulistischen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ | |
(PiS)] die Zwangsquarantäne für ganz Oberschlesien, doch kündigten sie an, | |
die prekäre Situation zu nutzen und den seit Jahren defizitären | |
Steinkohlebergbau zu „konsolidieren“. | |
Was das heißt, ist allen klar: Arbeitsplatzverlust für Tausende Kumpel. | |
Sofort kündigten die Bergarbeitergewerkschaften heftige Proteste an, sollte | |
tatsächlich die eine oder andere Steinkohlegrube für immer geschlossen | |
werden. | |
## Kohlebergbau ist ohnehin ein Auslaufmodell | |
Dabei macht die Restrukturierung des größten Kohlereviers in Polen schon | |
seit Jahren gute Fortschritte, ohne dass dies aber von der Bevölkerung | |
bewusst wahrgenommen wird. Der polnische Steinkohlebergbau beschäftigt zwar | |
noch rund 80.000 Mitarbeiter, davon jedoch nur noch rund 60.000 direkt beim | |
Kohleabbau. Rund 20.000 Angestellte sind in kohlefernen Berufen tätig. | |
Zum Bruttosozialprodukt Oberschlesiens trägt der Bergbau höchstens noch | |
wenige Prozent bei. Der Staat muss jährlich Millionenzuschüsse zu den | |
Bergarbeiterlöhnen und -renten zahlen, um die Bergwerke nicht in Konkurs | |
gehen zu lassen. Wichtiger für die Wirtschaft sind längst schon innovative | |
Industrien und Gewerbebetriebe. | |
Per SMS wurden knapp 40.000 Kohlekumpel aufgefordert, zu Hause zu bleiben – | |
so lange, bis die Gefahr gebannt sei. Ob sie sich jemals wieder „Glück | |
auf!“ bei der Einfahrt in den Berg wünschen werden, weiß niemand. | |
22 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
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