# taz.de -- Ökologisch-soziale Erneuerung: Bereit für das Nach-Corona | |
> Noch geht Politik im Modus von Notmaßnahmen. Die Linke sollte eine | |
> Debatte über echte Veränderungen anstoßen. | |
Bild: Digital in der Nach-Corona-Zeit | |
Die Krise ist eine Chance. Sagte sich Heinz-Hermann Thiele, der den 84. | |
Rang auf der Forbes-Liste der Milliardäre hält. Als das Virus den | |
Luftverkehr ergriff, verdoppelte der 89-jährige Hauptaktionär von | |
Knorr-Bremsen mit 200 Millionen Einsatz seine Beteiligung an der Lufthansa | |
– nun gehören ihm 10 Prozent davon. Aber damit seine Gestaltungskraft nicht | |
zu sehr belastet wird, beschloss die Firma Knorr, 4.000 ihrer Arbeiter in | |
Kurzarbeit zu schicken und dennoch 300 Millionen Rendite auszuschütten, | |
wovon Thiele 70 Prozent zustehen. | |
Die Krise ist eine Chance. Sagte sich Roland Koch, der einst | |
Ministerpräsident von Hessen war, danach den Konzern Bilfinger und Berger | |
fast ruinierte und nun als Professor in Frankfurt andere das Wirtschaften | |
lehrt. Mit der Parole „Jetzt müssen wir die Fesseln sprengen“ meldete er | |
sich in die politische Welt zurück. In eigener Sache oder als Vorgruppe zu | |
Friedrich Merz? Auf jeden Fall mit „radikalen Maßnahmen“ zur Rückkehr auf | |
den Wachstumspfad: „Anpassung“ der Staatsausgaben für Renten, Bildung, | |
Dekarbonisierung und andere „wiederkehrende Ausgaben“, flächendeckende | |
Deregulierung von Industrieforschung, Banken- und Lebensmittelaufsicht, | |
Datenschutz und Tierversuche, Steuererleichterungen für die Wirtschaft, | |
Lockerung der Arbeitszeitregeln, volldigitale Beschulung und dergleichen | |
mehr. | |
Never let a good crisis go to waste – so lautet die Formel von Obamas | |
Stabschef Rahm Emanuel: In Krisen kann man tun, was man sonst nicht gewagt | |
oder gekonnt hätte. Und damit sind wir wohl erst am Anfang. Das Schlimmste | |
kommt noch, the worst is yet to come, le pire est à venir – das war in den | |
letzten Wochen der internationale Schlagzeilen-Hit. Ein paar ifo-Zahlen, | |
nur für Deutschland: 18 Prozent der Firmen haben bereits Arbeitsplätze | |
gestrichen, die Hälfte der Gastronomen und Hoteliers, 39 Prozent der | |
Automobilhersteller, 30 Prozent der Medienunternehmen planen Entlassungen – | |
Wirtschaftsprüfer und Steuerberater hingegen melden: keine Probleme, ebenso | |
wie die Betreiber von Spielhallen, Wettbüros und Lotterieeinnehmer. | |
In den Krankenhäusern sterben die Menschen, so die Formel, „im Zusammenhang | |
mit Corona“ und mit „Vorerkrankungen“. Auch im gesellschaftlichen Ganzen | |
macht die Pandemie nur offenkundiger, was wir schon vorher wissen konnten: | |
die Hygiene in den Fleischfabriken ebenso wie ein unterausgestattetes | |
Schulsystem, in dem die Kluft zwischen Arm und Reich an die nächste | |
Generation weitergegeben wird. Die Zustände [1][in den Pflegeheimen] sind | |
nicht jetzt erst ein Verstoß gegen die Menschenwürde, und auch der virale | |
Schund in den Netzen ist nichts Neues. Schon 2019 hatte die deutsche | |
Autoindustrie das schlechteste Ergebnis der letzten zwanzig Jahre, war | |
Amazon auf dem Weg zum Monopol, erwartete der Karstadt-Konzern, der jetzt, | |
coronabedingt, 60 Kaufhäuser schließen will, einen Verlust von 100 | |
Millionen, gingen die Ankündigungen von Entlassungen in die | |
Hunderttausende. Alles ohne Corona, aber nun können Verantwortlichkeiten | |
nivelliert, die Folgekosten sozialisiert werden. | |
Die Krise ist eine Chance – auch für eine sozialökologische Erneuerung? | |
Zurzeit geschieht Politik im Modus von Notmaßnahmen, im Tagesrhythmus und | |
im Handgemenge mit den Lobbys. Vorstöße für strukturelle Veränderungen | |
haben außerhalb des Feuilletons keine Chance. Die Große Koalition neigt | |
dazu, die Coronakrise in den verfestigten Strukturen zu lösen. Aber wir | |
sind erst am Anfang. Zurzeit kann niemand seriös sagen, wie hoch die Zahl | |
der Arbeitslosen, der Konkurse im September sein wird, ob | |
Kontaktbeschränkungen einen geregelten Schulbetrieb bis ins nächste Jahr | |
verhindern, die Furcht vorm Virus die Automobilität antreiben wird; wie | |
groß die politischen Verwerfungen durch Fake News sein werden, ob und wie | |
stark eine zweite Welle die Pflegeheime, die Wirtschaft, die Nerven trifft. | |
## Eine Debatte entfesseln | |
„Bereit sein ist alles“ – wenn sie sich an Hamlets Devise für das Handeln | |
in unentschiedenen Situationen hält, sollte die „Linke“ (immer noch gibt es | |
kein besseres Wort dafür) im Herbst, also ein Jahr vor der nächsten Wahl, | |
bereit sein für eine zweite Welle im Streit über die Gestaltung der „neuen | |
Normalität“: Sollen die Veränderungen der Arbeitswelt durch Krise und | |
Digitalisierung mit einem generellen Grundeinkommen abgefedert werden – | |
oder wollen wir mit einer Verkürzung der Regelarbeitszeit und einer | |
Ausbildungsoffensive die Spaltung in systemnotwendige und überflüssige | |
Bürger vermeiden? Sollen [2][Microsoft & Co] mit dem flächendeckenden | |
Ausbau des digitalen Unterrichts die Schulen rationeller machen, oder | |
brauchen wir für Schulen, die zum Nachdenken, zum Verstehen, zur Kritik und | |
zum Gestalten bilden sollen, eher andere Schulformen und mehr Lehrer? Geht | |
es darum, kommerziell betriebene Heime besser auszustatten und zu | |
kontrollieren – oder wollen wir Pflege, Krankenversorgung und andere | |
Leistungen der Daseinsvorsorge langfristig der Profitlogik entziehen, und | |
wie? Welche Veränderungen im Aktienrecht und der Steuerpolitik sind | |
überlebensnotwendig für die Demokratie? Und so weiter. | |
In Artikeln, Taschenbüchern, Kongressprotokollen der letzten Jahre mangelt | |
es nicht an Alternativvorschlägen für all das. Einiges darin ist | |
vernünftig, wenn auch kaum etwas durchgerechnet. Mit einer Mischung aus | |
Realismus und Kraft zur Zuspitzung könnte eine rot-grüne Linke ein knappes | |
Zeitfenster für die Entfesselung einer Debatte über echte Veränderungen | |
nutzen. Optimistisch gesehen: Es ist noch nicht entschieden, ob die | |
siebzehn Monate bis zur Wahl vor allem durch Rettungspolitik für die alte | |
Normalität bestimmt sein werden. Wenn ich in den letzten Tagen ein | |
Hoffnungszeichen gesehen habe, dann die von den Grünen gestützte | |
Ankündigung von [3][Arbeitsminister Heil], die Werkverträge in der | |
Fleischindustrie zu verbieten – per Gesetz. | |
20 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Mathias Greffrath | |
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