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# taz.de -- Konzeptwerk Neue Ökonomie über Utopie: „Es braucht eine positiv…
> Klimakrise, Schuldenkrise, Wohnungsmarktkrise, Sorgekrise: Die Analyse,
> was derzeit falsch läuft, kann entmutigend sein. Da sind Utopien gefragt.
Bild: Schöne Aussichten?
taz: Frau Pinnow, was unterscheidet die Wirtschaft im Jahr 2048 von der
aktuellen?
Anne Pinnow: Die Paradigmen haben sich umgekehrt. Wirtschaft der Zukunft
ist nicht mehr um profitorientierte Unternehmen, globale Finanzmärkte und
Wachstumszwang herum aufgebaut. Fossile und andere umweltzerstörende
Industrien gibt es nicht mehr. Die krasse soziale Ungleichheit, die heute
die Gesellschaft spaltet, ist verschwunden. Es gibt kaum noch
Privateigentum, zumindest an Grund und Boden, an Immobilien und
Produktionsmitteln.
Und was macht diese Wirtschaft statt dessen aus?
Sie ist vor allem eine demokratische Wirtschaft, in deren Mittelpunkt die
Menschen stehen. Was produziert wird, richtet sich nach ihren Bedürfnissen
und dem Gemeinwohl. Die Produktion ist ökologisch verträglich, die Produkte
sind langlebig und reparabel. Die Unternehmen sind genossenschaftlich
organisiert und demokratisch mitbestimmt, die Hierarchien flach. Was
möglich ist, wird in der Region produziert. Rohstoffe werden in den
Herkunftsländern verarbeitet, so dass der globale Süden seine Abhängigkeit
abgeschüttelt hat. Der Welthandel ist stark zurückgegangen, aber nicht
unmöglich. Diese geringere Bewegungsfreiheit für Güter bedeutet aber nicht
weniger Bewegungsfreiheit für Menschen – im Gegenteil.
Diese Utopie haben Sie im Konzeptwerk Neue Ökonomie gemeinsam mit
Vordenkenden aus Wissenschaft, Bewegung, Gewerkschaften und der
nachhaltigen Wirtschaft in mehreren Zukunftswerkstätten entwickelt. Was war
die Idee?
Es gibt derzeit sehr viele Krisen, Klimakrise, Sorgekrise, Schuldenkrisen,
die Krise auf dem Wohnungsmarkt. Die Analyse, was schief läuft, ist zum
Teil sehr entmutigend. Und wir haben uns zuletzt viel mit Postwachstum und
Degrowth beschäftigt, was auch oft negativ konnotiert ist und viele
Menschen mit Verzicht und geringerer Lebensqualität gleichsetzen. Es
braucht einfach wieder eine umfassende positive Vision. Wir wollen
Menschen, die sich in ihren Zusammenhängen vielleicht tagtäglich mit
Abwehrkämpfen beschäftigen, einen offenen kreativen Raum bieten. Um mal
wieder zu sehen: Wofür streiten wir eigentlich? Vor allem soll eine
positive Vision, Menschen ermutigen und begeistern und der
Alternativlosigkeit etwas entgegengesetzt werden.
Eine Art Masterplan für eine bessere Gesellschaft?
Das wollen wir nicht. Wir wollen anregen. Die vielen Ideen, die es bereits
gibt, zusammenführen und ein gesamtgesellschaftliches Bild entwerfen, das
natürlich jede Menge Lücken haben wird. Auch die Teilnehmenden zu vernetzen
gehört dazu.
Worin waren sich die Teilnehmenden am schnellsten einig?
Dass wir 100 Prozent erneuerbare statt fossiler Energien brauchen, war
immer sofort gesetzt. Ebenso wie die Vorstellung, dass Sorgearbeit statt
Erwerbsarbeit zuerst gedacht werden muss und dass Wirtschaften solidarisch
und kooperativ gestaltet gehört. Dass die Entscheidungsmacht nicht bei
Einzelnen liegen darf, sondern Mitbestimmungsstrukturen da sein müssen.
Wie sollen die aussehen?
Die Idee der Räte wurde häufig formuliert. Dahinter steckt der Gedanke,
dass alle mitbestimmen sollen, was hergestellt werden soll und unter
welchen Bedingungen, wie Arbeiten verteilt, aber auch, wo Häuser gebaut
werden sollen oder Kindergärten, wie Pflege stattfindet. „Alle“ heißt dan…
alle, die von der Entscheidung betroffen sind. Es ist aber völlig unklar,
in welcher Beziehung diese Räte zueinander stehen, wie sie
zusammenarbeiten, ob es zwischen ihnen Hierarchien gibt. Und so weiter. Das
werden wir in den nächsten Wochen weiter diskutieren.
Worüber wurde am meisten gestritten?
Über Privateigentum und Ressourcen und ob es überhaupt noch Geld gibt. Beim
Eigentum waren sich alle einig, dass niemand durch privates Eigentum Macht
über andere haben darf. Aber ob Fahrräder oder andere Dinge des Alltags
geteilt werden sollten, war umstritten. Die Ressourcenfrage geht auch in
diese Richtung: Wenn etwa ein Land des globalen Südens Rohstoffe hat – wer
entscheidet, ob und wie die abgebaut werden? Ist es die Weltgesellschaft,
die die Bedürfnisse aller Menschen im Blick hat, schreibt man damit
womöglich koloniale Strukturen fort. Wenn die Gesellschaft vor Ort
entscheidet – hat sie dann nicht Macht über alle anderen? Wobei alle
wiederum optimistisch waren, dass Menschen verantwortliche Entscheidungen
treffen, wenn sie vor Ort mitentscheiden können und über globale
Auswirkungen informiert sind. Ausbeutung und Herrschaft fängt im Kleinen
an, wenn sie also auf direkter Ebene überwunden sind, vermutlich auch auf
höheren Ebenen nicht.
Das klingt alles, als käme man mit den Utopien nicht weiter, sobald es ins
Detail geht.
Wäre das so schlimm? Sich mit Utopien zu beschäftigen bedeutet ja auch,
sich bewusst anzugucken, wozu gibt es so etwas wie Geld oder
Privateigentum? Welche ihrer Funktionen sind auch in einem anderen
Gesellschaftsmodell vielleicht nützlich – und wie kann man diese Funktionen
transformieren?
Utopien sind auch erst richtig interessant, wenn sich auch Wege dorthin
skizzieren lassen. Im Vorfeld schrieb einer der Werkstatt-Teilnehmer, er
würde auch gerne über Chancen und Risiken einer Ökodiktatur reden. Gab es
diese Debatte?
Überhaupt nicht. Wenn jemand nach einer Diktatur ruft, spricht daraus die
Sorge, dass es anders nicht zu schaffen wäre. Das wäre es aber auch mit
einer Diktatur nicht, denn Gewalt erzeugt immer Gegengewalt – und das ist
nicht die Gesellschaft, zu der wir hinwollen. Auch heute geht etwa der
kulturelle Wandel vielen Menschen einfach zu schnell, neue Vorstellungen
wie autofreie Städte lösen Ängste aus. Wir müssen also schon von einem
längeren Prozess der sozialökologischen Transformation ausgehen, den wir
nicht beschleunigen können. Gesellschaftliche Veränderungen sind immer ein
Prozess und werden nie beendet sein. Eine Utopie hilft, sich unterwegs
immer wieder klar zu machen, wo wir hinwollen.
Es gibt bereits [1][Konzepte wie die Gemeinwohlökonomie] oder die
Solidarische Ökonomie. Wie passen die mit Ihren Ideen zusammen?
Diese Konzepte sind ja relativ weit und sie beantworten unterschiedliche
Fragen – die GWÖ liefert Indikatoren, die nachhaltiges Wirtschaften
vergleichbar machen, die Solidarische Ökonomie Ideen von Gerechtigkeit. Das
passt. Uns ist es wichtig, all diese Theorien in einem Gesamtkonstrukt
sichtbar werden zu lassen.
Wie kommt nun der Wandel in die Welt?
Dazu gehören viele Akteure aus NGOs, Wissenschaft, Politik, Unternehmen,
Medien. Und oft auch ein – oft singuläres – äußeres Ereignis. Spielen Sie
das mal am [2][Beispiel Atomausstieg] durch: Auf den ersten Blick sieht es
so aus, als habe die Bundesregierung den beschlossen, nachdem 2011 das
Atomkraftwerk Fukushima zerstört wurde. Tatsächlich bedurfte es aber eines
sehr langen Vorlaufs – denn diese Chance hätte es auch schon 1986 nach dem
GAU von Tschernobyl gegeben. Aber da hatte die Anti-Atombewegung ihre
Kämpfe noch nicht ausgetragen, das Thema in die Öffentlichkeit gebracht und
gehalten, Wissenschaftler!nnen hatten noch keine Strahlenbelastungen
gemessen und nicht vor der Gefahr gewarnt, die Medien waren noch nicht
atomkritisch. Und es gab noch nicht so viel Unternehmen, die erneuerbare
Energien produzieren, so dass Atomkraft nicht gebraucht wird. Und so
weiter.
Übertragen auf ein alternatives Wirtschaftsmodell passiert ja auch schon
vieles davon. Fehlt jetzt die ganz große Krise?
Das war bei den Zukunftswerkstätten eine Lieblingslösung, weil Krisen das
Potenzial haben, Entwicklungen zu beschleunigen. Aber es kann natürlich
genausogut in die falsche Richtung gehen, autoritäre Strukturen hervorrufen
oder stützen. Ich finde, das Modell zeigt eher, wie wichtig diese ganzen
Akteur!nnen sind, die gemeinsam an dem Projekt arbeiten, die Unternehmen,
die heute schon nachhaltig wirtschaften und zeigen, dass es geht. Und vor
allem die Bewegungen, die den Druck aufbauen und Veränderungen leben und
auch die Gewerkschaften.
Die Gewerkschaften?
Derzeit haben wir vor allem beim Klima viel Bewegung, neben der
Klimagerechtigkeitsbewegung, die es schon lange gibt, nun auch Fridays for
Future und Extinction Rebellion. Die erreichen ganz neue Leute. Trotzdem
muss man sehen, dass andere Bewegungen nicht hinten runterfallen. Solche,
die sich mit soziale Fragen beschäftigen, zum Beispiel. Wenn die Politik
diese Gruppen gegeneinander ausspielt, hat das das Potenzial, die
Gesellschaft zu spalten. [3][Gewerkschaften können ökologische und soziale
Fragen verbinden.] Sie müssen das sogar, weil sie jetzt noch mitgestalten
und mitentscheiden können. Ich sehe sie in einer Vermittlerposition
zwischen Bewegung und Arbeitnehmenden.
Was macht das Konzeptwerk nun mit den Utopien?
Im kommenden Jahr veranstalten wir einen großen Utopie-Kongress, geplant
sind 1.500 Teilnehmende. Dort diskutieren wir weiter.
2 Jan 2020
## LINKS
[1] /Unternehmen-und-soziale-Bewegungen/!5352680
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[3] /IG-Metall-Vorstand-zu-Industrie-Zukunft/!5632504
## AUTOREN
Beate Willms
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