| # taz.de -- Soziologe über positive Zukunftsideen: „Utopisch Denken braucht … | |
| > Angesichts der Krisen fällt es schwer, positive Zukunftsszenarien zu | |
| > entwickeln. Warum das gerade jetzt wichtig ist, sagt der Soziologe Stefan | |
| > Selke. | |
| Bild: Zum ersten Mal war die Erde als Ganzes sichtbar, fragil und wunderschön,… | |
| taz: Herr Selke, wir Menschen haben keine Probleme damit, [1][uns die | |
| Apokalypse auszumalen]. Warum fällt es uns so schwer, positive Bilder von | |
| der Zukunft zu entwerfen? | |
| Stefan Selke: Menschen lieben Geschichten, sie lieben Dramen. Die | |
| Apokalypse, der Weltuntergang, ist das Drama schlechthin. Es gibt allein | |
| über 500 Varianten von der Sintfluterzählung, in allen Kulturkreisen. So | |
| ein richtig gutes Drama ist unterhaltsam und funktional. Und mit der Angst, | |
| die so eine Geschichte erzeugt, lassen sich Menschen auch gut lenken. | |
| Utopien haben einen schlechten Ruf. Woran liegt das? | |
| Es gibt eine weit verbreitete Angst vor der großen Utopie, und die ist im | |
| Grunde Angst vor der Ideologie. Das 20. Jahrhundert war die Zeit der | |
| gesellschaftlichen Großutopien, die dann ins Dystopische, ins Faschistische | |
| abgeglitten sind. Da will natürlich niemand wieder hin. Dennoch sollte wir | |
| diese Angst beiseitelegen und uns stattdessen trauen, [2][utopisch zu | |
| denken]. Denn eigentlich geht es bei der Utopie nicht um die Weltformel, | |
| sondern eher um visionären Pragmatismus. Um die Frage: Wie wollen wir diese | |
| unsere Welt, unsere Gesellschaft, gemeinsam gestalten? | |
| In Ihrem Buch „Wunschland“ klopfen Sie verschiedene utopische Projekte ab. | |
| Gibt es eines, von dem wir besonders viel lernen können? | |
| Ich finde Monte Verità sehr inspirierend, eine Lebensreformgemeinschaft, | |
| die Anfang des 20. Jahrhunderts [3][bei Ascona im Tessin entstand]. Die | |
| Menschen, die dort um 1900 zusammenkamen, waren, wie wir heute, | |
| zivilisationsmüde und krisengebeutelt – aber es gab eben auch eine | |
| unglaublich positive Aufbruchstimmung. Die Lebensreformbewegung, die damals | |
| entstand, hatte sich zum Ziel gesetzt, wirklich alles neu zu denken: | |
| Ernährung, Landwirtschaft, Beziehungen, selbst Sprache. Das war ein | |
| Feuerwerk an Ideen, der Wahnsinn. Dieser Geist von Zukunftseuphorie, der | |
| begeistert mich sehr. Genau das brauchen wir heute wieder. | |
| Frei, gleich, gerecht: Träumen wir Menschen den immergleichen Traum? Wie | |
| schaffen wir eigentlich grundlegend Neues? | |
| Utopien sind immer ein Spiegel dessen, was in einer Gesellschaft als | |
| Problem empfunden wird. Auch die persönlichen Erfahrungen der Gründer | |
| spielen durchaus eine Rolle. Henry Oedenkoven zum Beispiel hatte sich den | |
| Magen verdorben und hat dann in Monte Verità vegane Ernährung ausprobiert | |
| und propagiert. Andere arbeiteten sich am Kapitalismus ab, an Ausbeutung | |
| und Militarismus, die gaben sich dann pazifistische oder spirituelle Ziele. | |
| Wir sind alle geprägt, biografisch, geschlechtlich, kulturell. Das sind | |
| soziale Konventionen, die wir nicht von heute auf morgen ablegen, das muss | |
| man sich systematisch abtrainieren. | |
| Was halten Sie von Projekten wie [4][„Neom“ in Saudi-Arabien], wo mitten in | |
| der Wüste eine neue Hightech-Stadt entstehen soll? Hat das für Sie | |
| utopischen Wert? | |
| „Neom“ ist in meinen Augen eher ein Negativbeispiel, ähnlich wie all die | |
| geplanten Unterwasserstädte. Alles, was elitär, privilegiert und | |
| exkludierend ist, ist per se nicht utopisch. Das sind keine Blaupausen für | |
| eine gelingende Zukunft, sondern Survival-of-the-richest-Strategien. Es | |
| braucht unendlich viele Ressourcen, damit diese Leute da in ihrem | |
| klimatisierten Luxushabitat ein antiseptisches Leben genießen können. | |
| Insgesamt ist das eher ein Ansatz von „future by disaster“ als „future by | |
| design“. | |
| Was meinen Sie damit? | |
| Mit „future by disaster“ meine ich, dass Welten als Reaktion auf externen | |
| Druck entworfen werden, angstgetrieben. „Neom“ ist da ein gutes Beispiel: | |
| Das saudische Regime befürchtet, dass bald das Öl ausgeht, und sucht nun | |
| mit allen Mitteln nach Wegen, Geld ins Land zu bringen. Auch die Pläne für | |
| die [5][„Ocean Spiral City“], eine Unterwasserstadt vor der Küste Japans, | |
| entstehen „by disaster“: In diesem Fall ist es die Angst vor Tsunamis und | |
| Erdbeben, die die Menschen treibt. Mit wirklicher Veränderung, mit | |
| positiver Entwicklung von Gesellschaft hat das nichts zu tun. Gerettet | |
| werden immer nur die Eliten. | |
| Angesichts der vielen Krisen fühlen sich viele Menschen unfähig, positive | |
| Zukunftsszenarien zu entwickeln. Sie sprechen von „Zukunftsarmut“. | |
| Ja, mittlerweile belegen empirische Studien dieses Phänomen. Die | |
| [6][Sinus-Milieustudie 2022] zum Beispiel hat gezeigt: Nur 35 Prozent aller | |
| Teenager in Deutschland schauen optimistisch in die Zukunft. Die junge | |
| Generation hat nicht mehr das Gefühl, die Welt mitgestalten zu können. | |
| Eigentlich müsste es da einen medialen Aufschrei geben, aber der bleibt | |
| bislang aus. Ich meine: Transformation ist ja nichts anderes als der Glaube | |
| daran, dass die Welt gestaltbar ist und dass man selbst einen Beitrag | |
| leisten kann. Und der kommt uns langsam, aber sicher abhanden. | |
| Die Welt verändert sich derzeit rasend schnell. Wissenschaftler*innen | |
| und Politiker*innen fordern Anpassung, zum Beispiel an die Klimakrise. | |
| Und genau das halte ich für grundfalsch. Anpassung ist zum neuen Leitmotiv | |
| geworden, und das kann fatale Folgen haben. Denn Anpassung bedeutet | |
| Stillstand. Da wird dann ein sogenannter Normalzustand als alternativlos | |
| vorausgesetzt. Wir nehmen bestimmte Wirtschaftsverhältnisse und | |
| gesellschaftliche Konventionen als gegeben hin und denken überhaupt nicht | |
| mehr in Alternativen. | |
| Sie sprechen selbst von „erschöpften Gesellschaften“. Das macht es schwer, | |
| utopisch zu denken. Wie kommen wir da raus? | |
| Wir brauchen neue Vorbilder und starke Symbole. Und wir brauchen gute | |
| Geschichten von einer erstrebenswerten Zukunft. Bilder können immense | |
| Kräfte freisetzen. Denken Sie nur an die Fotografie „Earthrise“. Das | |
| berühmte Foto, das aus der Perspektive eines Astronauten zeigt, wie über | |
| dem Mond die Erde aufgeht. | |
| Das Bild wurde auf dem Flug von Apollo 8 aufgenommen, im Jahr 1968. Es hat | |
| Geschichte geschrieben. | |
| Dieses Foto ging um die Welt, und es hat unglaubliche Wirkung entfaltet. | |
| Zum ersten Mal war die Erde als Ganzes sichtbar, fragil und wunderschön und | |
| umgeben von unendlichem Raum. „Earthrise“ hat erstmals ein planetares | |
| Bewusstsein geschaffen. Dieses Bild der Nasa hat die Umweltbewegung | |
| inspiriert und unglaublich viel Engagement angestoßen. | |
| Brauchen wir ein neues Bild dieser Art, um einen neuen historischen Ruck zu | |
| erzeugen? | |
| Das wäre großartig. Ich denke viel darüber nach, was für ein Bild das sein | |
| könnte. Vor allem aber denke ich: Utopisches Denken braucht Training, wir | |
| müssen üben. Und wir sollten Räume schaffen, wo das angstfrei möglich ist | |
| und sogar gefördert wird. Da sind die Bildungseinrichtungen gefragt, aber | |
| auch Unternehmen und Institutionen. Wir brauchen [7][Summer Schools, | |
| Workshops], in denen wir die Frage stellen: Können wir uns Alternativen | |
| vorstellen? Und das nicht nur rein kognitiv. Wir müssen Bilder schaffen, an | |
| denen wir emotional beteiligt sind. Wir brauchen das Gefühl, dass es Freude | |
| macht, über die Zukunft nachzudenken. Aufbruchstimmung! Zukunftseuphorie | |
| [8][ist der soziale Treibstoff für Veränderung]. | |
| 26 Apr 2023 | |
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| [6] https://www.sinus-institut.de/sinus-milieus/sinus-milieus-deutschland | |
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| ## AUTOREN | |
| Dunja Batarilo | |
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