# taz.de -- Parathlet über inklusive Raumfahrt: „Das Weltall sollte für all… | |
> Die ESA prüft derzeit, wie auch Menschen mit körperlicher Behinderung ins | |
> All fliegen können. John McFall trainiert für den Einsatz als Astronaut. | |
Bild: John McFall ist Chirurg und vielleicht bald der erste Mensch mit körperl… | |
Im Wohnzimmer von John McFall stapeln sich die Umzugskisten. Bald geht es | |
für ihn und seine Familie von Südengland für zwei Jahre nach Deutschland, | |
ans Astronautenzentrum der Europäischen Agentur für Raumfahrt (ESA) in | |
Köln. Er erscheint ein paar Minuten zu spät zum Videocall, weil seine | |
Kinder beim Nintendo-Spielen versehentlich das Wi-Fi ausgeschaltet haben. | |
taz: Herr McFall, Sie sind als erster Mensch mit Behinderung weltweit zum | |
Astronauten-Kandidaten ernannt worden. Wie fühlte es sich an, das erste Mal | |
die ESA-Uniform anzuziehen? | |
John McFall: Früher war ich professioneller Läufer. Ich kenne also das | |
Gefühl, ein Trikot anzuziehen und sofort Teil von etwas Größerem zu sein. | |
Dennoch war das noch einmal eine andere Nummer. Als der Generaldirektor der | |
ESA anrief und sagte: Kommen Sie nach Paris, dort stellen wir die neuen | |
Kandidaten vor, konnte ich es kaum fassen. Dabei habe ich als Kind ehrlich | |
gesagt nie davon geträumt, dass ich einmal ein Astronaut sein könnte. | |
Warum haben Sie sich dann beworben? | |
Ein Freund schrieb mir 2021 eine Textnachricht: „Die ESA sucht Leute wie | |
dich für die Raumfahrt!“ Mein erster Gedanke war: Genau – warum sollte ein | |
Mensch mit Behinderung denn auch nicht ins Weltall fliegen können? Diese | |
Herausforderung reizte mich. Und ich hatte Glück. Die ESA hat mir die | |
Chance gegeben, Teil einer zweijährigen Machbarkeitsstudie zu sein, die | |
beweisen will, dass auch Menschen wie ich das können. Das macht mich stolz | |
und dankbar. Das Weltall sollte ein Ort für alle sein. | |
Und wie machen wir das Weltall zu einem solchen Ort? | |
Wir haben uns die Trainingsgeräte der Nasa angesehen, die sie für die | |
Vorbereitung auf ISS-Missionen benutzen. Wir wollten herausfinden: Könnte | |
auch ich, mit einer Prothese, diese Geräte benutzen? Wir waren auch bei | |
SpaceX, Elon Musks Raumfahrtunternehmen, in Kalifornien und haben getestet, | |
ob ich deren Raumkapsel in einer Notfallsituation betreten und verlassen | |
kann. Ob ich auf die gesamte Notfallausrüstung im Inneren des Raumschiffs | |
zugreifen kann, und vieles mehr. Bis jetzt waren die Ergebnisse sehr | |
ermutigend. Dennoch müssen wir damit beginnen, Mikrogravitations-Habitate | |
und Trainingseinrichtungen für Menschen mit verschiedenen Behinderungen zu | |
entwickeln. Wir versuchen die Ausrüstung so zu gestalten, dass sie für mehr | |
Menschen zugänglich ist. Der Weltraum soll in Zukunft inklusiver werden. | |
Aber das braucht Zeit. | |
Wann wird die ESA entscheiden, ob eine solche Raumfahrt möglich ist? | |
Die Studie ist für zwei Jahre angesetzt. Sollten wir zu dem Schluss kommen, | |
dass einer solchen Mission nichts im Weg steht, dann beginnt für mich und | |
mein Team das echte Astronautentraining erst so richtig! Ich hoffe also, | |
dass es eine langfristige Zukunft für mich bei der ESA geben wird. | |
Sie wurden unter anderem ausgewählt, weil Sie Arzt sind und genau | |
einschätzen können, welche Anpassungen der Technologie Sie benötigen. Ihr | |
rechtes Bein musste nach einem schweren Motorradunfall amputiert werden, | |
als Sie 19 Jahre alt waren. Dennoch vertraten Sie später Großbritannien bei | |
den Paralympischen Spielen als Läufer und wurden dann Chirurg. Sie haben | |
einmal gesagt, der Unfall hätte Sie nicht gebremst, sondern Ihnen sogar | |
mehr Antrieb verliehen. | |
Wenn einem etwas Schlimmes im Leben passiert, dann kommen Eigenschaften zum | |
Vorschein, von denen man vorher nichts ahnte. Ich glaube, wir alle tragen | |
diese verborgenen Kräfte in uns. Natürlich habe ich mir nie gewünscht, eine | |
Amputation zu erleiden. Doch ironischerweise waren die Türen, die sich | |
dadurch öffneten, einfach faszinierend. Der Unfall hat mir gezeigt, wozu | |
ich fähig bin, wenn ich mich anstrenge. Ich war vorher ein ziemlich fauler | |
Teenager. | |
Das ist ehrlich gesagt schwer zu glauben. Sie kommen aus einer | |
Militärfamilie und hatten vor Ihrem Unfall vor, selbst Soldat zu werden. | |
Es stimmt, ich sitze nicht gern herum, aber das war ein ganz anderes Level | |
an Willenskraft, das ich aufwenden musste. Der Unfall zwang mich, Hürden zu | |
überwinden, die ich so bis dahin nicht kannte. Ich weiß nicht, ob ich | |
dieselben Erfahrungen gemacht hätte, wenn ich mein Bein nicht verloren | |
hätte. Gleichzeitig glaube ich auch sehr an meine Fähigkeiten als | |
Individuum. Die Prothese allein macht mich nicht aus. | |
Gab es in ihrem Leben einen Punkt, an dem Sie aufgeben wollten? | |
Nein, ich bin ein sehr pragmatischer Mensch. Natürlich habe ich mich nach | |
dem Unfall im Krankenbett elend gefühlt. Also überlegte ich, was ich tun | |
muss, um diesem Gefühl zu entkommen. Die Antwort lautete: Weitermachen! Ich | |
wollte rennen, [1][also rannte ich. Nur eben mit Prothese]. | |
Die ESA hat für ihr Programm den Begriff „Parastronaut“ erfunden. Sie | |
selbst haben in einem anderen Interview einmal den Astronauten Tim Peake | |
zitiert, der gesagt hat: „Im Weltall haben alle Menschen eine Behinderung.“ | |
Niemand ist für das Leben im Weltall gemacht. Braucht man dann überhaupt | |
das Präfix Para? | |
Das ist ein interessanter Punkt. Ich denke, die Idee war, dass dank der | |
[2][Paralympischen Spiele] jeder mit diesem Begriff etwas anfangen kann. Er | |
ist leicht verständlich, er sorgt für Aufmerksamkeit. Aber auf der anderen | |
Seite bin ich ja auch kein Para-Chirurg. Ich bin Chirurg. Ich bin kein | |
Para-Vater, ich bin Vater. | |
Bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris sollen erstmals „Parathlet*innen“ | |
mit nichtbehinderten Athlet*innen die olympische Fackel tragen. Auch die | |
ESA betont inzwischen, dass Sie ein Astronaut sind wie jeder andere. | |
Glauben Sie dennoch, dass der Begriff andere Menschen mit körperlichen | |
Behinderungen vielleicht auch ermutigen könnte? | |
Das ist auf jeden Fall eine Möglichkeit. Wir müssen genau diese Debatte | |
führen und so viele verschiedene Meinungen dazu einholen wie möglich. | |
Sprache ist wirkmächtig. | |
Früher ging es im Weltall um den Machtkampf von Staaten und | |
Weltanschauungen, dann immer mehr um die Forschung. Nun entsendet die Nasa | |
die erste Frau und die erste Person of Color auf den Mond. Kommen wir in | |
ein neues Zeitalter der Repräsentation? | |
Es ist eine unglaublich starke Botschaft, dass nicht mehr nur eine Gruppe | |
von Menschen ins Weltall fliegt. Doch wir dürfen dabei nicht vergessen: | |
Falls ich eines Tages wirklich ins All fliege, dann werde ich einfach ein | |
Astronaut sein, wie alle anderen. Wir alle haben verschiedene Expertisen, | |
meine ist es, Arzt zu sein. Ich möchte in dieser Funktion an der Forschung | |
im All, zum Beispiel auf der Internationalen Raumstation, mitwirken. | |
Und wenn Sie es tatsächlich ins Weltall schaffen, worauf freuen Sie sich am | |
meisten? | |
Auf das Gefühl der Schwerelosigkeit und [3][die wundervolle Aussicht]. Ich | |
will aber vor allem ein Vermächtnis hinterlassen: nämlich es Menschen mit | |
Behinderungen zu ermöglichen, ins Weltall zu fliegen. | |
Und wenn Sie nicht der Erste sein werden, sondern jemand anderes? | |
Dann werde ich natürlich enttäuscht sein. Aber es geht ja nicht um mich, | |
sondern darum, Grenzen zu überschreiten und langfristig einen Unterschied | |
zu machen. Also werde ich stolz sein, durch meinen Beitrag etwas für andere | |
geleistet zu haben. | |
Was war bis jetzt die größte Herausforderung auf ihrem Weg ins All? | |
Den Umzug meiner Familie nach Deutschland vorzubereiten. | |
Wirklich? | |
Sie sehen ja, mein ganzes Haus steht Kopf. Wir müssen als Familie Schulen | |
für die Kinder und Visa für uns alle organisieren, Umzugsfirmen | |
beauftragen, die Sprache lernen – bitte testen Sie jetzt nicht meine | |
Deutschkenntnisse! Sehr lästig finde ich auch, dass man in Deutschland fast | |
nirgends mit Karte bezahlen kann. | |
Gibt es in Deutschland auch etwas, auf das Sie sich freuen? Sie können | |
ehrlich sein. | |
Das Astronautenzentrum der ESA befindet sich in Köln, ich freue mich also | |
auf den Rhein! Ich habe gehört, der Karneval von Köln sei etwas ganz | |
Besonderes. | |
Sie werden dort auf jeden Fall einer Menge Astronauten begegnen. | |
Umso besser! | |
10 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Bilanz-der-Special-Olympics-World-Games/!5940018 | |
[2] /Paralympics-2022-in-Zeiten-des-Kriegs/!5836983 | |
[3] /Soziologe-ueber-positive-Zukunftsideen/!5926533 | |
## AUTOREN | |
Morgane Llanque | |
## TAGS | |
wochentaz | |
Zukunft | |
Weltall | |
Raumfahrt | |
Inklusion | |
IG | |
Astronomie | |
Weltraumforschung | |
Neue Nationalgalerie | |
Berlin | |
Transformation | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kinder fragen, die taz antwortet: Ist die Erde rund oder oval? | |
Wir wollen von Kindern wissen, welche Fragen sie beschäftigen. Jede Woche | |
beantworten wir eine. Diese Frage kommt von Yara, 4 Jahre alt. | |
Wissenschaftler über Weltraumnahrung: „Alles, was krümelt, ist verboten“ | |
Volker Hessel ist Professor für Nachhaltiges Chemieingenieurswesen. Er | |
verrät, warum Tubenessen im Weltraum bald der Vergangenheit angehören | |
könnte. | |
Die Wochenvorschau für Berlin: Standortbestimmung mit der Kunst | |
Der Blick nach oben und zurück: diese Woche schaut man in den Weltraum und | |
überprüft im Systemvergleich, auf welcher Seite sich die Kunst einordnete. | |
Bilanz der Special Olympics World Games: Spiele der großen Emotionen | |
Die Special Olympics bezaubern in Berlin durch Sport mit ungefilterten | |
Glücksgefühlen. Sie sind aber auch ein Schaufenster für Wege der Inklusion. | |
Soziologe über positive Zukunftsideen: „Utopisch Denken braucht Training“ | |
Angesichts der Krisen fällt es schwer, positive Zukunftsszenarien zu | |
entwickeln. Warum das gerade jetzt wichtig ist, sagt der Soziologe Stefan | |
Selke. | |
Paralympischer Sport im Umbruch: Suche nach einer neuen Heimat | |
Das internationale Paralympische Komitee dezentralisiert die Organisation | |
seiner Sportarten. Probleme wie die Verlegung der Ski-WM sind die Folge. |