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# taz.de -- Politologe Heins über offene Grenzen: „Angst durch Hoffnung erse…
> Die neue Lust, in größeren Maßstäben zu denken: Politologe Volker M.
> Heins über Migrationsrouten, offene Grenzen und notwendige Utopien.
Bild: Chinatown Lower Manhattan, New York, ca. 1935
taz: Herr Heins, Sie selbst bezeichnen Ihre Idee offener Grenzen für alle
als eine „Utopie“. Aber brauchen wir in Zeiten globaler Krisen nicht eher
pragmatischen Realismus als utopisches Denken?
Volker M. Heins: Pragmatischer Realismus und Utopie müssen sich ja nicht
ausschließen. Auch wer „auf Sicht fährt“, sollte sich überlegen, wohin d…
Reise geht. Wir haben uns zu lange damit begnügt, nicht mehr über den
nächsten Schritt hinaus zu denken. Aber in der Zwischenzeit ist in der
Gesellschaft etwas Neues entstanden: eine neue Lust, wieder in größeren
Maßstäben zu denken und herauszukommen aus einer Politik des bloßen
Reagierens auf Ereignisse. Die Utopie offener Grenzen, die innerhalb
Europas längst Wirklichkeit ist, reagiert auf diese Lust, wieder größer und
langfristiger zu denken.
Nationalstaaten sind aber doch weiterhin unverzichtbar, oder? Wie geht das
mit offenen Grenzen zusammen?
Staaten sind im Rahmen ihrer internationalen Verpflichtungen frei darin,
ihre Grenzen mehr oder weniger durchlässig zu gestalten. Daran möchte ich
im Prinzip gar nicht rütteln. Allerdings bin ich für eine Stärkung der
Kräfte, die innerhalb von Nationalstaaten dafür kämpfen, dass die
hochgezogenen Brücken der eigenen Festung wieder heruntergelassen werden.
Auch außereuropäische Staaten und Gesellschaften werden zunehmend darauf
drängen, an Entscheidungen über Fragen einer künftigen globalen
Mobilitätsordnung beteiligt zu werden. In den Verhandlungen über ein
Freihandelsabkommen mit Großbritannien nach dem Brexit hat Indien bereits
auf Visaerleichterungen bestanden.
Haben wir in Zeiten des Lockdowns nicht alle gemerkt, dass freie Mobilität
eines der höchsten Güter und durch einen Pandemie-Shutdown ähnlich schwer
einzuschränken ist wie globale Migration durch geschlossene Grenzen?
So ist es. Für einen Augenblick haben wir gespürt, wie es ist, wenn unsere
begehrten Pässe nicht mehr als globale Türöffner funktionieren und wir
nicht einmal mehr ohne Weiteres nach Österreich kommen. Freiheit ist eben
mehr als Gedanken- und Meinungsfreiheit. Die körperliche Dimension der
Bewegungsfreiheit war zu lange in Vergessenheit geraten.
In Deutschland lag das private und öffentliche Leben über ein Jahr
weitgehend lahm. Gleichzeitig finden Abschiebungen von Geflüchteten längst
wieder statt. Was wirft das für ein Bild auf unser Land?
Nun ja, im Coronajahr 2020 ist die Zahl der Abschiebungen zunächst einmal
stark zurückgegangen. Sie war nicht einmal halb so hoch wie im Vorjahr.
Trotzdem: In dem Buch argumentiere ich grundsätzlich gegen die
Abschiebungen all derer, die nicht straffällig geworden sind und auch sonst
niemandem Schaden zufügen.
Wie konnte es eigentlich passieren, dass in unserer sich immer weiter
globalisierenden Welt zugleich immer härtere Grenzregime entstehen?
Mit der wachsenden Verwobenheit der Welt und der Erweiterung der Horizonte
wächst das Bedürfnis nach sozialräumlicher Bewegungsfreiheit.
Militarisierte Grenzregimes sind eine erschreckend gewaltsame und
fantasielose Antwort auf den wachsenden Mobilitätsbedarf besonders von
Menschen aus dem globalen Süden. Letztlich sind sie der vergebliche
Versuch, eine „weiße“ Parallelgesellschaft auf der Erde zu erhalten oder
wiederherzustellen.
Eines der Hauptargumente gegen offene Grenzen lautet, dass sich dann sofort
die halbe Welt auf den Weg zu uns macht. Gibt es da nicht wirklich so etwas
wie „Kapazitätsgrenzen“?
Menschen wandern typischerweise von ärmeren in reichere Regionen, wo sie
auf ein besseres und friedlicheres Leben hoffen. Mein erster Satz lautet,
dass sie dazu erst einmal alles Recht der Welt haben. Zwischen 1840 und
1940 sind zwischen 50 und 60 Millionen Europäerinnen nach Nord- und
Südamerika ausgewandert. Im selben Zeitraum haben sich ungefähr genauso
viele Inderinnen und Chinesen in Südostasien und an den Küsten des
Indischen Ozeans niedergelassen. Andere sind aus Russland in die
Mandschurei und nach Zentralasien gezogen.
Man stelle sich vor, Politiker in den Zielländern all dieser
Wanderungsbewegungen hätten damals in New York oder Shanghai darüber
beraten, wie sie die Ursachen dieser Wanderungen bekämpfen sollten, die
Russinnen, Inder oder Italiener zum Aufbruch veranlassten. Hätten sie
Hilfsprogramme aufstellen oder Plakate und später Filme zeigen sollen, die
den Auswanderungswilligen deutlich gemacht hätten, dass Amerika und die
großen Küstenstädte Chinas doch nicht so toll waren, wie sie glaubten? Das
ist unrealistisch. Immer sind Menschen dahin gewandert, wo es Arbeit oder
Land gab und folglich keine „Kapazitätsgrenzen“. Und fast immer sind sie
bei Teilen der Bevölkerung auf Abwehr und Rassismus gestoßen.
Würde dann also mehr Zuwanderung den Rassismus bei uns nicht erst recht
schüren?
Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts vertraten Politiker in Kalifornien
den Irrglauben, dass man den antichinesischen Rassismus am besten dadurch
bekämpft, dass man keine Chinesen mehr ins Land lässt. Tatsächlich verlief
die Entwicklung genau andersherum. Erst mit der massiven Ausweitung und
Normalisierung der chinesischen Einwanderung verlor allmählich auch das
antichinesische Ressentiment seinen politischen Stachel. Nur eine
vielfältige Gesellschaft schützt vor Rassismus.
Meistens sind es vor allem die besser Ausgebildeten, die ihr gefährliches
oder perspektivarmes Heimatland verlassen. Werden diese Menschen zu Hause
nicht viel dringender gebraucht als bei uns?
Das ist das paternalistische Argument, das auch viele nationale Linke wie
etwa Sahra Wagenknecht verwenden und mit dem schon der Bau von Mauern
gerechtfertigt wurde. Ich bin zwar auch gegen die aggressive Abwerbung etwa
von Krankenschwestern aus Ghana oder Mexiko, aber letztlich immer dafür,
dass migrationswillige Personen selbst entscheiden, wo sie leben und
arbeiten möchten.
Wenn offene Grenzen so viele Vorteile haben, warum haben wir sie nicht
längst?
Die kurze Antwort lautet, dass Politiker oft mit Rassismus ihre Wähler
mobilisieren können. Angst ist ein ebenso schlechter wie oft konsultierter
Ratgeber. Es wird behauptet, dass da draußen, hinter den hohen Mauern, „zu
viele“ darauf lauern, zu uns zu kommen, und dass die Ausgeschlossenen „zu
anders“ sind für unsere Verhältnisse. Die Grenze zwischen Europa und
Afrika, die durchs Mittelmeer läuft, oder die Grenze zwischen den USA und
Mexiko, werden mit dem Angstschweiß weißer Männer (und Frauen) gezogen. Das
Verrückte daran ist, dass diese Grenzen lange Zeit viel offener waren als
heute. Bis in die achtziger Jahre war es für Menschen zum Beispiel aus dem
Senegal noch relativ leicht, ein Arbeitsvisum in Frankreich zu bekommen.
Zehntausende Senegalesen arbeiteten allein in der französischen
Automobilindustrie. Erst mit Inkrafttreten des Schengener Abkommens wurde
eine Visumspflicht für sie und andere ehemalige Kolonien eingeführt.
Schengen wirkte wie ein großer „Weißmacher“ Europas.
Wie sähe Ihre Utopie der offenen Grenzen ganz konkret aus, sagen wir in den
nächsten zehn, zwanzig Jahren?
Die grundsätzliche Aufgabe besteht darin, Angst durch Hoffnung zu ersetzen,
also den Popanz der „Islamisierung“ oder neuerdings „Afrikanisierung“
Europas durch das Bild einer gemeinsam gestalteten „afropäischen“ Zukunft.
Wir sollten vor und nach der Bundestagswahl daran erinnern, dass es lange
Zeit legale Migrationsrouten aus dem globalen Süden nach Europa gab, die
erst vor Kurzem gekappt wurden. Und dass solche Routen im Interesse aller
behutsam wiedereröffnet werden sollten, so wie man stillgelegte
Bahnstrecken wiederherstellt.
Erste Vorschläge werden ja längst diskutiert und gehören in künftige
Koalitionsverhandlungen: eine Liberalisierung des Aufenthaltsrechts
(„Spurwechsel“ für abgelehnte Asylbewerberinnen), befristete Arbeitsvisa
gegen Kaution, Schnupper-Visa und „Talentkarten“ auch für die Köchin aus
Mali oder den Lehrer aus Tunesien. Das wären die ersten Schritte.
23 Aug 2021
## AUTOREN
Tom Wohlfarth
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